Analyse

Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und soziale Sicherheit

Analyse

Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und soziale Sicherheit

Zukunftsorientierte Mitglieder der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) setzen verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse ein, um bestehende Strategien, Programme und Dienstleistungen zu überprüfen und neue zu entwickeln. Die Verhaltenswissenschaften bieten einige neue und sehr nützliche Instrumente, mit denen sich die kundenzentrierte Ausrichtung der sozialen Sicherheit ausbauen und eine genaue Abstimmung der Dienstleistungen auf die politischen Ziele und die gewünschten strategischen Ergebnisse erreichen lässt.

Im Mittelpunkt vieler Lösungen für umfassende und komplexe gesellschaftliche Herausforderungen wie Kriminalität, Diskriminierung (in all ihren Formen), Fettleibigkeit oder Umweltverschmutzung steht der Ansatz, dass die Menschen ihr Verhalten ändern sollen. Bei der Gestaltung öffentlicher politischer Strategien, Programme und Dienstleistungen setzt man deshalb vermehrt auf verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse. Der Ansatz, der auf Ergebnissen aus Psychologie, Kognitionswissenschaften und Sozialwissenschaften beruht, nutzt die Tatsache, dass das menschliche Verhalten einerseits durch bewusste und andererseits durch unbewusste Faktoren bestimmt wird. Der bewusste oder nicht automatisierte Teil erfolgt kontrolliert und überlegt, während der unbewusste oder automatische Teil des Verhaltens intuitiv und schnell geschieht. Menschen können sich zwar bewusst für etwas entscheiden, doch Studien haben gezeigt, dass die meisten Entscheidungen unbewusst und den Gewohnheiten gemäß erfolgen und vor allem davon beeinflusst werden, was andere tun oder wie Wahlmöglichkeiten präsentiert werden.

2009 gab die Staatskanzlei (Cabinet Office) des Vereinigten Königreichs einen Bericht in Auftrag, der die Anwendung der Verhaltenswissenschaften auf die Politikgestaltung untersuchen sollte. In diesem Bericht (Dolan et al., 2010) wurde anhand des sogenannten MINDSPACE-Rahmens gezeigt, wie sich verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse für die politische Gestaltung nutzen lassen. Bei der Politikformulierung lässt sich das Verhalten der Menschen mit diesem Rahmen durch neun robuste Faktoren ohne irgendwelche Zwänge beeinflussen. MINDSPACE steht für die Anfangsbuchstaben dieser neun Faktoren im Englischen (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1. Die MINDSPACE-Checkliste
Messenger Überbringer: Wir sind stark davon beeinflusst, wer uns eine Information überbringt.
Incentives Anreize: Auf einen Anreiz folgt meist eine vorhersagbare mentale Reaktion. 
Norms Normen: Wir sind stark davon beeinflusst, was andere tun.
Defaults Standardoptionen: Wir geben uns meist nicht die Mühe, über die vorhandenen Standardoptionen hinauszudenken.
Salience Auffälligkeit: Neues und für uns Relevantes erregt unsere Aufmerksamkeit.
Priming Unser Handeln wird oft durch unbewusste Trigger bestimmt.
Affect Emotionale Assoziationen können sich stark auf unser Handeln auswirken.
Commitments Verbindlichkeiten: Wir versuchen, unseren öffentlichen Versprechungen gerecht zu werden; und für Taten, die uns zugute kommen, revanchieren wir uns.
Ego Ego: Wir handeln tendenziell so, dass wir uns danach besser fühlen.

Das 2010 gegründete Team für verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse (Behavioural Insights Team) mit Sitz im Vereinigten Königreich führte den MINDSPACE-Rahmen ein, von dem später der einfachere und pragmatischere EAST-Rahmen abgeleitet wurde (Service et al., 2014). Der Name leitet sich aus den Anfangsbuchstaben von easy (einfach), attractive (attraktiv), social (sozial) und timely (zeitnah) ab. Andere internationale Organisationen haben seither weitere Rahmen vorgeschlagen, so die Weltbank (Weltbank, 2015) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD BASIC Toolkit).

Zwar haben die einzelnen Rahmen unterschiedliche Schwerpunkte, aber doch eine Gemeinsamkeit: Sie beziehen sich für die Gestaltung oder Neugestaltung politischer Strategien, Programme und Dienstleistungen auf verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse, denn diese können die Umsetzung verbessern und damit das Erreichen gesellschaftlicher Ziele und gewünschter politischer Ergebnisse begünstigen.

Nachfolgend sind einige Beispiele aus der Datenbank für gute Praxis der IVSS sowie Erfahrungen aus virtuellen IVSS-Veranstaltungen der letzten Zeit von Mitgliedern aus Australien und Tunesien, Singapur und Indonesien zusammengestellt. Diese zeigen, dass ein besseres Verständnis des Kontexts, der Bedürfnisse der Versicherten und des allgemeinen menschlichen Verhaltens zu effizienteren Dienstleistungen, besseren Lösungen und besseren gesellschaftlichen Ergebnissen führt.

Erfahrungen aus der Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse in der sozialen Sicherheit

Deckungsausweitung

Singapur. Um die bei der Jugend verbreitete Meinung zu entkräften, die Registrierung bei der sozialen Sicherheit bedeute einen hohen administrativen Aufwand, klinkte sich der Zentrale Vorsorgefonds (Central Provident Fund Board – CPFB) Singapurs in sozialen Netzwerken ins Trendthema Erwachsenwerden ein, unter dem Millennials Probleme teilen, die sie mit zunehmender Verantwortung als Erwachsene haben. Der Zentrale Vorsorgefonds schaffte es mit der Kampagne #ICanAdult, den Diskurs von einer verbreiteten Sozialversicherungsflucht hin zu einer selbstverständlichen Registrierung als Teil gar nicht so aufwendiger Pflichten zu drehen.

Tunesien. Die Initiative der tunesischen Landeskasse für soziale Sicherheit (Caisse nationale de sécurité sociale – CNSS) zur Verbesserung der Deckung von mobilen Arbeitskräften in der Landwirtschaft wird laufend neu an die Umstände angepasst. Ungefähr 80 Prozent der in der Landwirtschaft beschäftigten mobilen Arbeitskräfte sind Frauen. Für ihre Deckung gibt es große Hürden, hauptsächlich infolge der Saisonalität, Nachfrageabhängigkeit und Befristung der Arbeit sowie des unregelmäßigen Einkommens wegen der schwankenden Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe.

Dank Gesetzesänderungen verfügen mobile landwirtschaftliche Arbeitskräfte nun über einen Status als Selbstständige, und sie können ihre Beiträge in Tranchen zahlen anstatt wie zuvor nur vierteljährlich. Eine Auswertung der Erfahrungen von mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Landwirtschaft zeigte, dass neue Dienstleistungsformen nötig sind, um Hindernisse aufgrund fehlender Identitätsdokumente, eines mangelnden Zugangs zu Bankdienstleistungen und der Abgelegenheit der ländlichen Gebiete zu überwinden. Mit der Einführung interoperabler Plattformen in öffentlichen Behörden konnten die Anforderungen für die Registrierung gelockert und die Ausgabe eindeutiger Sozialversicherungsnummern vereinfacht werden. Vereinbarungen mit den drei großen Telefonie-Unternehmen des Landes, den Postbetrieben und Finanzinstitutionen machten ein Bezahlsystem mit elektronischer Geldbörse möglich, auf das man von Mobiltelefonen aus zugreifen kann. Trotz des verbreiteten Analphabetismus bei den mobilen landwirtschaftlichen Arbeitskräften hat dank der einfachen Bedienung der mobilen Dienste nun auch diese benachteiligte Gruppe Zugang zu sozialer Sicherheit.

Beitragseinzug und Einhaltung der Bestimmungen

Kenia. Die kenianische Rentenkasse der Gemeinden (Local Authorities Pension Trust – LAPTRUST) fördert die Deckung informell Beschäftigter mit der Kampagne „Spare beim Ausgeben“. Aufgrund der verbreiteten menschlichen Neigung, Geld lieber auszugeben als zu sparen, hat sich die Rentenkasse der Gemeinden mit Gruppen aus dem informellen Sektor zusammengeschlossen und ein elektronisches Verfahren (mit einer Debit- oder Kreditkarte oder einer mobilen Geldbörse) entwickelt. Bei jeder Abbuchung wird ein kleiner Prozentsatz automatisch an das Rentenkonto der Person überwiesen. So hilft die Technologie, die mangelnde Disziplin zu überlisten und für das Alter vorzusorgen.

Indonesien. Die Nationale Behörde für soziale Sicherheit und Beschäftigung (National Social Security Administering Body for Employment – BPJS Ketenagakerjaan) aus Indonesien wendete gemeinsam mit dem Team für verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse (Behavioural Insights Team) aus dem Vereinigten Königreich eine Methode aus den Verhaltenswissenschaften an, um den Beitragszahlungsverzug von Arbeitgebern zu reduzieren und sie zu ermutigen, die Beträge für ihre Mitglieder fristgerecht zu entrichten. Getestet wurde die Wirksamkeit verschiedener E-Mail-Aufforderungen, um die Arbeitgeber dazu zu bringen, einen größeren Teil der Beiträge bereits vor der monatlichen Frist zu zahlen (siehe Tabelle 2) (Erfianto et al., 2019).

Tabelle 2. E-Mail-Nachrichten zur Förderung der fristgerechten Beitragszahlung
Argument Inhalt der E-Mail
Kontrollgruppe Keine E-Mail
Soziale Normen Dem Unternehmen wird erklärt, dass die Mehrheit der Unternehmen ihre Sozialversicherungsbeiträge fristgerecht entrichtet.
Risiko einer Anklage Es wird betont, dass Unternehmen mit Zahlungsverzug mit einer öffentlichen Anklage zu rechnen haben.
Risiko für Beschäftigte Es wird darauf hingewiesen, dass bei einem Zahlungsverzug des Unternehmens die Beschäftigten nicht versichert sind, und das Unternehmen wird aufgefordert, sich mehr um das Wohl seiner Mitarbeitenden zu kümmern.
Planung Das Unternehmen wird gebeten, im Kalender Datum und Uhrzeit zu notieren, wann die Beiträge abgebucht werden sollen.

Die Versuche zeigten, dass E-Mails mit den Argumenten „Risiko einer Anklage“, „Risiko für Beschäftigte“ und „Planung“ die Zahlungsmoral stark verbesserten. Am wirksamsten war das Argument „Risiko einer Anklage“: Die Wahrscheinlichkeit einer fristgerechten Beitragszahlung durch das Unternehmen stieg um 2,6 Prozent. „Dadurch nahm die Zahl der zahlenden Unternehmen um 500 Betriebe zu, und die Begleichung früherer Rückstände stieg verglichen mit der Kontrollgruppe um 10,2 Milliarden indonesischen Rupien (IDR) (0,7 Millionen US-Dollar (USD))“, hieß es im Bericht.

Trotz dieser positiven Ergebnisse hat BPJS Ketenagakerjaan die Umsetzung der E Mail-Strategie aufgrund einer Regierungsverordnung, wonach Arbeitgeber ihre Beitragszahlung aufgrund der COVID-19-Pandemie aufschieben können, vorübergehend ausgesetzt.

Prävention von Fehlern und Betrug

Frankreich. Die französische Landeskasse für Familienzulagen (Caisse nationale des allocations familiales – CNAF) setzt auf eine solide Kommunikationsstrategie, um ungerechtfertigte Zuwendungen zu reduzieren, die entweder versehentlich oder in betrügerischer Absicht bezogen werden. Das Hauptinstrument sind automatische Überprüfungen durch einen Datenaustausch mit Partneragenturen, Dokumentenüberprüfungen sowie Kontrollen vor Ort. Außerdem wurde eine Informationskampagne über unterschiedliche Medien und das Internet gestartet, mit der die Menschen aufgefordert werden, Änderungen in ihrer Situation schnell zu melden, damit sie keine ungerechtfertigten Zahlungen rückerstatten müssen. Im Rahmen des französischen Gesetzes über das „Recht auf Fehler“ erklärt das Programm, welcher Zusammenhang zwischen Rechten der sozialen Sicherheit und Meldepflichten besteht.

Inanspruchnahme von Leistungen

Finnland. Die finnische Sozialversicherungsanstalt (Kansaneläkelaitos – KELA) profitiert davon, dass die Bevölkerung mit sozialen Medien und Kommunikationstechnologien vertraut ist. Die KELA-Tipps sind Teil einer gezielten Kommunikationsstrategie und enthalten Tipps für über 100 verschiedene Leistungen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Damit sollen gezielt Bevölkerungsgruppen wie Studierende, Familien und junge Menschen angesprochen werden, damit sie Programmleistungen beantragen. Schlüssel der Strategie ist die Verwendung bestimmter Titel, die in den sozialen Medien Anklang finden. Mit Überschriften wie „Leidet jemand in Ihrer Familie an Gedächtnisschwund?“ oder „Studierende: Hat euer Sommerjob einen Einfluss auf euer Wohngeld?“ werden die Finninnen und Finnen unmissverständlich dazu aufgefordert, Leistungen der Programme der sozialen Sicherheit zu beantragen.

Singapur. Um den Mitgliedern zu helfen, angemessene Ansparungen für das Alter zu tätigen, nutzt der Zentrale Vorsorgefonds (Central Provident Fund Board – CPFB) Singapurs für die Neugestaltung seiner Altersvorsorge-Strategien verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse. Verschiedene Verhaltensweisen stellen Hemmnisse hinsichtlich des Ansparens für das Alter dar. So tendieren beispielsweise viele Menschen dazu, sofort zu konsumieren und die Ruhestandsplanung aufzuschieben, und sie fällen ungern Entscheidungen über ihre Zukunft. Durch eine intelligente Kombination verschiedener verhaltenswissenschaftlicher Ansätze wie Standardoptionen, automatische Aufnahme, Erläuterung von Alternativen, Nutzerfreundlichkeit und Anreize hilft der Zentrale Vorsorgefonds den Bürgerinnen und Bürgern Singapurs, bessere Entscheidungen zu treffen, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

Der allgemeine Rentenplan des CPFB-Rentensystems ist seit 2013 für Rentnerinnen und Rentner die Standardoption. Dennoch bietet der Zentrale Vorsorgefonds Lernmodule über Anlagekonzepte und Produkte an, die auch ein Selbstbeurteilungs-Quiz enthalten, mit dem Versicherte ihr Anlagewissen testen können. Dieses ist besonders wertvoll für Versicherte, die die Standardoption kündigen möchten.

Das Bezuschusste Rentensparprogramm des CPFB fördert Zusatzansparungen. Für jeden gesparten Singapur-Dollar (SGD) leistet der Staat fünf Jahre lang bis zu einer Obergrenze von 600 SGD für anspruchsberechtigte CPFB-Mitglieder 1 SGD Zuschuss. Solche Zusatzansparungen werden einfach mit einem QR-Code markiert.

Der Altersvorsorgedienst des CPFB bietet eine persönliche Beratung an, um Mitglieder über Optionen zu informieren und ihnen nahezulegen, ihre Rentenauszahlung aufzuschieben, damit sie später höhere monatliche Beträge beziehen und so mehr Sicherheit im Alter gewinnen. Der Altersvorsorgedienst wird stark nachgefragt: Über 95 Prozent der Mitglieder nutzen die maßgeschneiderten Informationen des Diensts.

Ganzheitlicher Ansatz der Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse im Kundendienst

Australien. Dienstleistungen Australien (Services Australia) entwickelte in den letzten zehn Jahren einen ganzheitlichen Ansatz, der die Erfahrungen von Kunden und Mitarbeitenden durch verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse und Kundenstatistiken nutzt, um Service-Verbesserungen voranzutreiben. Zu den Hauptmerkmalen des Ansatzes gehören:

  1. Eine Online-Bibliothek mit Kundenerfahrungen steht zentral für die gesamte Institution einschließlich aller strategischer Abteilungen zur Verfügung, damit bestehende Dienstleistungen verbessert und neue entwickelt werden können.
  2. Sogenannte Erfahrungslaboratorien in ganz Australien arbeiten direkt mit Kunden zusammen, um ihre Erfahrungen zu untersuchen, ihre Stationen, ihre Bedürfnisse und Erwartungen zu erfahren und zu beschreiben, was gut funktioniert.
  3. Multidisziplinäre Teams gliedern die Kundenerfahrungen anhand internationaler Erbringungsstandards des iterativen Prozesses Discovery-Alpha-Beta-and-Live auf. Die Arbeit umfasst eine Vorphase aus der Analyse früherer Daten, eine Mängelbestimmung und die Formulierung erster Hypothesen. Darauf folgt die Erkundungsphase, die Kundenforschung, verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und Datenanalysen nutzt, um den aktuellen Stand zu ermitteln. In den Alpha- und Beta-Phasen wird dann das Konzept entwickelt, und Prototypen werden mit Kunden (und ggf. mit Mitarbeitenden) getestet, um die Lösungen weiter zu verbessern und anhand von Rückmeldungen eine Dienstleistungs-Roadmap zu erstellen, bevor die tatsächliche Umsetzung erfolgt.
  4. Technologien wie künstliche Intelligenz, Sprachanalyse und andere Datenanalysen werden eingesetzt, um aus den Kundenerfahrungen Erkenntnisse hoher Qualität und mit großer Datenbasis zu gewinnen.
  5. Die Behörde setzt für eine menschenzentrierte Dienstleistungsgestaltung ein Customer Experience Management (CEM) System ein und stellt sicher, dass folgende Standards eingehalten werden:
     
    1. Wertbestimmung – Lösen wir das richtige Problem?
    2. Wertschöpfung – Lösen wir das Problem auf die richtige Art?
    3. Wertnutzung – Bringt die Lösung den richtigen Nutzen?

Das bestehende System wurde getestet und hat sich vielfach als äußerst nützlich erwiesen. Jüngst wurde es im Rahmen der COVID-19-Pandemie angewendet, als auf einmal sehr viele Australierinnen und Australier auf die Einkommensunterstützungsleistung JobSeeker zugreifen wollten. Dank der bereits vorhandenen Infrastruktur und Abläufe konnte Dienstleistungen Australien schnell ein multidisziplinäres Team aufbauen, um die Antragstellung und Auszahlung der JobSeeker-Leistungen auf digitale Kanäle und mobile Apps umzustellen. Zehn Tage nach Einführung des neuen Prozesses hatten bereits mehr als 50 000 australische Bürgerinnen und Bürger einen Antrag gestellt und dafür im Durchschnitt nur 21 Minuten gebraucht.

Für die Zeit nach der Pandemie erwartet Dienstleistungen Australien weiterhin eine hohe Nachfrage nach Kundenkanälen mit persönlichem Kontakt, insbesondere bei komplexen Sachlagen und für Kundinnen und Kunden, die eine direkte Begegnung vorziehen. Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse werden auch zur Neugestaltung des persönlichen Kundenkontakts genutzt. Im Dezember 2020 wurde ein Pilotversuch mit einer neuen Terminvergabe gestartet, das „Professionelle Dienstleistungsmodell“, das durch Online-Kanäle, Videotelefonie und herkömmliche Telefonie unterstützt wird. Dadurch hat die Behörde mehr Zeit für benachteiligte Kundinnen und Kunden und kann gegebenenfalls weitere Fachleute oder Drittorganisationen beiziehen. Gleichzeitig wird an einer neuen Generation eines „Virtuellen Kundenzentrums“ gearbeitet, in dem man einen Termin vereinbaren und dann online mit Verwaltungsfachleuten kommunizieren kann.

Schlussfolgerungen

Wie sich in den Beispielen guter Praxis und den gesammelten Erfahrungen zeigt, haben die IVSS-Mitglieder laufend Innovationen eingeführt, um lange vorhandene, sich verändernde und immer komplexer werdende Herausforderungen der sozialen Sicherheit anzugehen. Ziel ist es dabei stets, bei der Erfüllung des Mandats der sozialen Sicherheit exzellente Dienstleistungen anzubieten, um bessere Ergebnisse für die Gesellschaft und die Öffentlichkeit zu erzielen.

Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse liefern ein wertvolles Arsenal von neuen Instrumenten, mit denen sich die kundenzentrierte Ausrichtung der sozialen Sicherheit noch weiter ausweiten, vertiefen und vorantreiben lässt. Mit der „verhaltenswissenschaftlichen Brille“ erhalten die Institutionen eine frische, kreative und dynamische Sicht auf lange bestehende Herausforderungen wie Deckungsausweitung, Einhaltung der Beitragspflicht, Leistungszuweisung sowie Bekämpfung von Betrug und Hinterziehung, um nur einige wenige zu nennen.

Die IVSS-Mitgliedsinstitutionen befinden sich, was die Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verbesserung der Strategien, Programme und Dienstleistungen anbetrifft, in unterschiedlichen Reifestadien. Dennoch dürfen sowohl Einsteiger als auch Fortgeschrittene durch diesen Ansatz große Vorteile erwarten. Bei der Anwendung der verhaltenswissenschaftlichen Ergebnisse kommen robuste empirische Methoden zum Einsatz, die alles andere als aus der Luft gegriffen sind. Bereits in der Erkundungsphase sind aufwendige Prozesse erforderlich, um die Herausforderungen in Etappen aufzuteilen, festzulegen, welche Verhaltensweisen zuerst angegangen werden sollen, und datenbasierte Maßnahmen zu prüfen, die das Verhalten in die gewünschte Richtung verändern sollen (Hallsworth und Kirkman, 2020). Randomisierte Kontrollversuche sind entscheidend, um durchführbare Lösungen zu ermitteln.

Das IVSS-Projekt Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und soziale Sicherheit entwickelt derzeit einen Rahmen, der genau auf die soziale Sicherheit abgestimmt ist und der den IVSS-Mitgliedern helfen wird, ihre Kapazitäten für den Einsatz verhaltenswissenschaftlicher Instrumente schrittweise aufzubauen. Die wichtigsten Bausteine dieses Rahmens sind Good Governance, ethische Prinzipien und Kundenzentriertheit. Von Bedeutung ist auch der jeweilige Kontext, denn das, was für eine Bevölkerungsgruppe funktioniert, kann bei einer anderen scheitern. Das Projekt wird Beispiele dazu enthalten, wie sich der Rahmen einsetzen lässt und wie die verhaltenswissenschaftliche Brille ein neues Licht auf anhaltende und lange bestehende Herausforderungen in der Verwaltung von Programmen der sozialen Sicherheit wirft, seien dies Deckungsausweitung, Einhaltung der Beitragspflicht, Prävention von Hinterziehung und Betrug oder Leistungsbearbeitung.

Referenzen

Dolan, P. et al. 2010. MINDSPACE: Influencing behaviour through public policy. London, Institute of Government.

Erfianto, R. et al. 2019. Reducing social security arrears in Indonesia: Project report. Jakarta, BPJS Ketenagakerjaan, The Behavioural Insights Team.

Hallsworth, M; Kirkman, E. 2020. Behavioural insights (The MIT Press Essential Knowledge series). Cambridge, MA, MIT Press.

Service, O. et al. 2014. EAST: Four simple ways to apply behavioural insights. London, The Behavioural Insights Team.

Weltbank. 2015. World development report 2015: Mind, society and behavior. Washington, D.C.