In der COVID-19-Pandemie hat sich erneut gezeigt, welch elementare Rolle die Systeme der sozialen Sicherheit in Europa spielen. Die verbleibenden Deckungslücken, die demografischen Veränderungen und die Transformation der Arbeitsmärkte verlangen jedoch nach Anpassungen und Reformen. Damit befasst sich ein neuer Bericht über die Prioritäten der sozialen Sicherheit in Europa, den die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) in Zusammenhang mit ihrem Regionalforum für soziale Sicherheit für Europa in Tallinn, Estland, veröffentlicht hat.
In Europa liegen viele Wurzeln der sozialen Sicherheit, und die meisten europäischen Länder sind heute, was die Gesetzgebung, die Systeme und die Institutionen der sozialen Sicherheit betrifft, weit fortgeschritten. Die Deckung der sozialen Sicherheit in der Region ist relativ hoch: So sind 83,9 Prozent der Bevölkerung durch mindestens eine Leistung gedeckt, verglichen mit 46,9 Prozent weltweit. Diese Stärke der Systeme der sozialen Sicherheit ist den Gesellschaften Europas während der COVID-19-Pandemie zugutegekommen, und die Menschen konnten sich auf die bestehenden Systeme und mehr als 500 spezifische Maßnahmen verlassen, die bis Dezember 2021 umgesetzt wurden.
Dennoch ist noch viel zu tun, und die Institutionen der sozialen Sicherheit müssen sich ständig weiterentwickeln und Innovationen einführen, um neuen Phänomenen und Herausforderungen gerecht zu werden. Der neue IVSS-Bericht Prioritäten für die soziale Sicherheit – Europa 2022 beschreibt Trends, Herausforderungen und Lösungen in fünf spezifischen Bereichen, die im Zusammenhang mit den Themenschwerpunkten der IVSS stehen, welche die Mitgliedsinstitutionen für den Zeitraum 2020 bis 2022 festgelegt haben. Der Bericht wird auf dem Regionalforum für soziale Sicherheit für Europa, das vom 2. bis 3. Mai 2022 in Tallinn, Estland, ausgerichtet wird, vorgestellt und diskutiert. Die Prioritäten und einige der wichtigsten Botschaften des Berichts lauten:
Entwicklung der Verwaltungspraxis: Die Institutionen der sozialen Sicherheit Europas implementieren eine innovative Verwaltungspraxis mit digitalen Lösungen, um die Ziele der sozialen Sicherheit und Exzellenz in der Dienstleistungserbringung zu erreichen. Technologien werden von den europäischen Systemen der sozialen Sicherheit bereits seit vielen Jahren eingesetzt, doch neue Trends verlangen, dass die digitalen Strategien überprüft und insbesondere auch eine institutionelle Transformation, eine stärkere Führung, ein strategischer Plan und ein institutionsweiter Ansatz ins Auge gefasst werden. Die datenbasierte soziale Sicherheit, gestützt auf Künstliche Intelligenz, Analyseverfahren und Big Data, wird immer mehr zum Alltag, aber auch hier sind stets menschliche Kontrolle und die Übernahme von Verantwortung gefragt.
Ausweitung und Erhaltung der Deckung der sozialen Sicherheit: Die Deckung der sozialen Sicherheit ist in Europa allgemein hoch. Die größten Deckungsherausforderungen liegen daher eher im Bereich neuer Arbeitsformen, insbesondere in der digitalen Plattformarbeit. Viele europäische Länder und auch die Europäische Union haben bedeutende Schritte unternommen, um diese Herausforderungen anzugehen. Weitere wichtige Themen sind die Deckung der sozialen Sicherheit für Arbeitsmigranten durch bilaterale und multilaterale Vereinbarungen und der Zugang der Menschen zu ihren Rechten der sozialen Sicherheit.
Erfüllung der Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung: Bis 2050 wird der Anteil von Menschen über 65 Jahren in Europa von gegenwärtig 19 Prozent auf 28 Prozent der Bevölkerung steigen. Die Anstrengungen zur Bewältigung dieser Herausforderung konzentrieren sich auf die Förderung von Gesundheit, Aktivität und Beschäftigung, auf die Gewährleistung der finanziellen Tragfähigkeit der Rentensysteme sowie auf eine ganzheitliche Entwicklung formalisierter Langzeitpflegesysteme und entsprechender Dienstleistungen.
Förderung von inklusivem Wachstum und gesellschaftlichem Zusammenhalt: Die soziale Sicherheit sollte verstärkt die wirtschaftliche Befähigung der Menschen in den Mittelpunkt stellen und einen lebensbegleitenden Ansatz verfolgen. Für junge Menschen sind vor allem die Kompetenzentwicklung und der Eintritt in den Arbeitsmarkt entscheidend, während gleichzeitig das Recht auf Sozialschutz in einer immer stärker digitalisierten und globalisierten Wirtschaft, in der Plattformarbeit und Migration verbreitet sind, verteidigt werden muss.
Maßnahmen der sozialen Sicherheit als Antwort auf die COVID-19-Pandemie: Während der Pandemie haben sich die Arbeitslosen- und Krankenversicherungsleistungen als wichtige Pfeiler der Antworten der sozialen Sicherheit erwiesen. Für die Institutionen der sozialen Sicherheit standen in dieser Zeit die Geschäftskontinuität und die Dienstleistungserbringung im Vordergrund, um sicherzustellen, dass die Menschen eine Unterstützung erhalten und über Arbeitsplätze verfügen, zu denen sie zurückkehren können. Die während der Pandemie umgesetzten Digitalisierungsstrategien werden für die Weiterentwicklung wirksamer und kundenzentrierter Systeme und Dienstleistungen der sozialen Sicherheit von Bedeutung sein.
Die Ergebnisse des neuen IVSS-Berichts werden auf dem Regionalforum für soziale Sicherheit für Europa als Gesprächsgrundlage dienen und auch Eingang in einen globalen Bericht finden, der auf dem Weltforum für soziale Sicherheit, das vom 24. bis 28. Oktober 2022 in Marrakesch, Marokko, stattfindet, vorgestellt werden soll.