Die COVID-19-Pandemie verstärkt die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in der sozialen Sicherheit. Trotz der menschlichen Tragödie bietet die Pandemie auch eine hervorragende Gelegenheit für langfristige Verbesserungen bei der Dienstleistungserbringung von Institutionen der sozialen Sicherheit. So lautet die Schlussfolgerung des Virtuellen Symposiums der IVSS über Informations- und Kommunikationstechnologie in der sozialen Sicherheit, das die IVSS am 19. Mai in Zusammenarbeit mit dem Estnischen Landesrat für Sozialversicherung (ENSIB) veranstaltete.
Der Ausbruch von COVID-19 bewirkte eine beispiellose Dringlichkeit und Notwendigkeit von digitalen Lösungen in der sozialen Sicherheit. IKT-Innovation und -Ausbau waren entscheidend für die Gewährleistung der Geschäftskontinuität, um den Zugang der Bürger zu Leistungen aufrechtzuerhalten, die explosionsartig wachsende Zahl von Anträgen zu bewältigen und neue Systeme einzuführen. Das virtuelle IVSS-Symposium widmete sich daher IKT-Antworten auf COVID-19. „Informations- und Kommunikationstechnologie spielt eine wesentliche Rolle bei Antworten auf COVID-19“, sagte Marcelo Abi-Ramia Caetano, IVSS Generalsekretär, in seiner Eröffnungsansprache.
Mit Referenten von Institutionen der sozialen Sicherheit in Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika, Asien und dem Pazifik und Europa sowie von internationalen Gremien bot das Symposium ein vielfältiges Panorama zu Innovationen und Einsätzen von IKT-Technologien in der sozialen Sicherheit seit Beginn der Pandemie. Organisiert wurde das virtuelle Symposium in zwei Themensitzungen mit Schwerpunkt auf Kundendienstleistungen während der COVID-19-Pandemie und Gesundheitsdienstleistungen während der COVID-19-Pandemie sowie mit einem CEO-Rundtisch über Lehren aus der Krise, eine bessere Reaktionsfähigkeit und Vorbereitungen für die Zukunft.
Aufrechterhaltung der Dienstleistungen während der Pandemie
Angesichts der unmittelbaren Umsetzung von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen wegen COVID-19 wurde es für die Institutionen der sozialen Sicherheit zu einer der größten Herausforderungen, die Dienstleistungen für ihre Nutzer aufrechtzuerhalten. Mit diesem Thema befasste sich eine Reihe von Webinaren, die ab Anfang 2020 von der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) organisiert wurden. Während des virtuellen IKT-Symposiums erklärte Edmund Cheong Peck Huang, Direktor für Strategie und Transformation der Anstalt für soziale Sicherheit (Pertubuhan Keselamatan Sosial – PERKESO), Malaysia, wie sie die bestehenden Programme, neue Leistungen und einen Nachfrageschub bewältigen mussten, während sie sich zugleich auch als Organisation der Pandemie anzupassen hatten.
Schon kurz nach Beginn der COVID-19-Pandemie erhielt PERKESO viermal so viele Anträge wie zuvor. Ein neues Stellensicherungs- und Lohnunterstützungspaket führte zu über 20 000 Anträgen pro Tag. Der Einsatz von IKT war das Kernstück einer Strategie, mit der während der Pandemie die Aufrechterhaltung einer hohen Dienstleistungsqualität angestrebt wurde. PERKESO verzeichnete eine massive Verlagerung vom traditionellen Kontakt zu mehr als 90% Verwendung von Online-Dienstleistungen. Ausgehend von dieser Erfahrung investiert PERKESO nun in neue digitale Plattformen. Eine neue App mit Push-Nachrichten dürfte es leichter machen, Leistungsempfänger mit zielgruppenorientierten Dienstleistungen und Nachrichten zu erreichen. Die App wird die Errichtung eines digitalen Ökosystems beschleunigen, darunter das Einrichten eines E-Wallet-Systems. Ein neuer Dienst während der Pandemie war der Chatbot Hanna, der die Mitarbeitenden entlastete und sicherstellte, dass mehr Kunden geholfen werden konnte. Es gab Bestrebungen, bei Informationen und Dienstleistungen stärker zielgruppenorientiert zu agieren und künstliche Intelligenz (siehe auch unsere Analyse von künstlicher Intelligenz in der sozialen Sicherheit) und maschinelles Lernen wurden gewannen in dieser Hinsicht an Bedeutung.
Und doch verfügen noch nicht alle Kunden über die Ausstattung, Kenntnisse und Fähigkeiten, um auf digital umzustellen. Dies unterstrich PERKESO ebenso wie Tony Olang, Leiter der Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Rentenkasse der Gemeinden (Local Authorities Pension Trust, LAPTRUST), Kenia. LAPTRUST arbeitet an der Entwicklung einer digitalen Arbeitsumgebung, der Digitalisierung von Akten und Sicherung von Lösungen für Online-Dienstleistungen, die ein wichtiges Element in der Planung ihrer Antwort auf COVID-19 wurden. Auch Morten Meyerhoff Nielsen von der Betriebseinheit für politikgesteuerte elektronische Verwaltung (Operating Unit on Policy-Driven Electronic Governance – UNU-EGOV) der Universität der Vereinten Nationen bestätigte dies und betonte, dass alles davon abhänge, dass das Back-Office digital befähigt werde.
Meyerhoff-Nielsen zeigte, wie es während der Pandemie zu einer vertikalen und horizontalen Erweiterung von Dienstleistungen der sozialen Sicherheit kam und wie dies die laufenden Trends der IKT-Umgestaltung verstärkte. So gesehen bietet dies den Institutionen der sozialen Sicherheit eine wertvolle Gelegenheit, weil sowohl die Mitarbeitenden als auch die Kundinnen und Kunden innerhalb einer Rekordzeit ihr Verhalten drastisch verändert haben. In der Antwort auf COVID-19 war eine Kombination aus Hi-Tech (Chatbots, digitale Zahlungssysteme, künstliche Intelligenz, Big Data, maschinelles Lernen) und Low-Tech (Call Centres, E-Mail, Online-Information) wichtig. Die digitale Kluft wird nicht von selbst verschwinden, und der anhaltende Fokus auf Inklusion ist entscheidend. Was Innovationen betrifft, betonte Meyerhoff-Nielsen, dass öffentliche Einrichtungen stets Second Mover sein und bewährte und erprobte Technologie nutzen sollten, aber auch gewisse Risiken beim Anpassen dieser Technologie an ihre Bedürfnisse akzeptieren müssten.
Die Rolle von IKT in Gesundheitsdienstleistungen während COVID-19
Die Pandemie war ein echter Belastungstest für die Gesundheits- und Krankenversicherungssysteme weltweit (siehe unsere Analyse von Gesundheitssystemen und COVID-19. Institutionen der sozialen Sicherheit waren mit COVID-19 praktisch von einem Tag auf den anderen konfrontiert. Glücklicherweise konnten sie oft auf bestehende Strategien und Lösungen aufbauen. Diese Sitzung wurde eröffnet von Ali Ghufron Mukti, dem geschäftsführenden Direktor der Behörde für soziale Sicherheit im Gesundheitssektor (BPJS Kesehatan), Indonesien, und Vorsitzender des IVSS-Fachausschusses für Gesundheitsleistungen und Krankenversicherung.
In seinem Vortrag erklärte Philippe Naty-Daufin, Berater des Präsidenten der Landeskasse für Krankenversicherung (Caisse nationale de l'assurance maladie – CNAM), wie Digitalisierung bereits eine Säule der aktuellen Transformation des französischen Gesundheitssystems ist. Bei der Antwort auf die Pandemie sind IKT-Lösungen zentral, wenn es um Information und Kommunikation, Behandlung und Isolation, Rückverfolgung und Verständnis der Pandemie geht, und bei der Wiederöffnung der Gesellschaft.
Eine Anti-COVID-19-App wurde in einer öffentlich-privaten Partnerschaft entwickelt und eingeführt, E-Mail-Kommunikationen schnellten von 35 000 pro Tag auf 80 000 in die Höhe, telemedizinische Konsultationen (siehe auch unsere Analyse über Telemedizin in Lateinamerika) stiegen explosionsartig von 5 000 auf 650 000 pro Woche an, und derzeit ist ein digitaler Gesundheitspass in Vorbereitung, um nur einige Beispiele zu nennen. Aus Sicht von Naty-Daufin half die Pandemie, den Widerstand von Patienten und Gesundheitsfachkräften zu brechen und die digitale Transformation zu beschleunigen.
Die Republik Korea war schon sehr früh von den Folgen von COVID-19 betroffen und IKT-Lösungen spielten eine zentrale Rolle bei ihren wirksamen Maßnahmen gegen die Pandemie. Sang-Baek Chris Kang, Generaldirektor, Abteilung für globale Zusammenarbeit, Landesdienst für Krankenversicherung (NHIS), unterstrich, wie wichtig es war, schon über ein komplett digitalisiertes Gesundheitssystem und ein nationales E-Governance-System zu verfügen. Ganz besonders betonte er den datengestützten Ansatz der Verwaltung für soziale Sicherheit, vor allem auf der Basis von Big Data, einschließlich der Zivilstandsregister und Lebensdatenstatistiken. Solche Big Data, die in Zusammenarbeit mit anderen Agenturen entwickelt werden, ermöglichen es der NHIS, Kontrollen der Anspruchsberechtigung durchzuführen, Beitrags- und Leistungsniveaus festzulegen und Gesundheitsmaßnahmen einzuführen. Während der Pandemie waren Big-Data-Ressourcen entscheidend, um Kontakte wirksam zurückzuverfolgen und Patienten in den kritischsten Zuständen in zentrale Krankenhäuser oder andere regionale Zentren zu schicken. Außerdem gelten der Einsatz von künstlicher Intelligenz, Deep Learning und linearer Projektion beruhend auf Big Data als zentrale Elemente in der koreanischen Antwort auf COVID-19. Während Herr Kang darin die Zukunft sieht, hob er die entscheidende Rolle der Qualität von Daten-Governance-Strukturen hervor, darunter Regeln, wer auf welche Daten wie zugreifen kann.
Für Tom Verdonck, Präsident, Europäisches Netzwerk für Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (European Healthcare Fraud and Corruption Network – EHFCN) sind die Digitalisierung der sozialen Sicherheit und Gesundheitsdienste eine willkommene Entwicklung, aber sie erfordert erhöhte Aufmerksamkeit für Prävention und Aufdeckung von Betrug. Er betonte, dass Lösungen, die mit den besten Absichten entworfen wurden, auch zu betrügerischen Zwecken genutzt werden können. Er wies darauf hin, dass für die Zunahme der Online-Abfragen, digitalen Zahlungen, elektronischen Bescheinigungen und die neuen Erstattungs-Codes häufig keine oder unzureichend entwickelte Kontrollstrukturen bestehen. Als Beispiel führte er an, dass einige Ärzte ihre E-Konsultationen registrierten, als hätten sie am Abend stattgefunden, um höhere Tarife zu verlangen. Wenn immer mehr Interaktionen online möglich werden, kommt es auch zu ernsten Problemen bei der Internetsicherheit und im Datenschutz, die anzugehen sind, und es werden mehr aggregierte Daten von digitalen Lösungen benötigt. Herr Verdonck wünscht sich in Zukunft mehr Aufmerksamkeit für solche Probleme.
Sicht der CEOs: Lehren aus der Krise und wie geht´s weiter
Die letzte Sitzung des virtuellen Symposiums über IKT in der sozialen Sicherheit war eine Diskussion unter hochrangigen Führungskräften von drei Kontinenten. Ziel der Sitzung war eine Bestandsaufnahme von Lehren aus der Krise und die Diskussion, wie dies helfen kann für eine bessere Reaktionsfähigkeit und Vorbereitungen für künftige Krisen. Raúl Ruggia-Frick, Direktor der IVSS-Abteilung für die Entwicklung der sozialen Sicherheit moderierte die Diskussion.
Für T.B.J. Memela, Generaldirektorin, Sozialversicherungsanstalt Südafrikas (South African Social Security Agency – SASSA) sollten wir die Betreuung der Verwundbaren nicht aus den Augen verlieren, wenn wir den Übergang der sozialen Sicherheit in eine digitale Umgebung erörtern. IKT hat eine wichtige Rolle in der Antwort auf die Pandemie gespielt, in Südafrika genauso wie anderenorts. Frau Memela unterstrich jedoch die Wichtigkeit eines Realitätschecks. Nicht alle Leistungsempfänger haben Zugang zum Internet, zu digitalen Lösungen, zu Zahlungen mit dem Handy oder auch nur zu Bankkonten. Deshalb tut immer noch ein breiterer Ansatz mit Schwerpunkt auf digitaler Inklusion, aber auch die Bereitstellung traditioneller Lösungen Not. Außerdem betonte sie die Notwendigkeit eines Gesamtregierungsansatzes, um die Interoperabilität zwischen staatlichen Agenturen und Einrichtungen sicherzustellen und die wirksame Datenteilung im Interesse der Leistungsbezieher zu gewährleisten.
Héctor Jaramillo Gutiérrez von der chilenischen Versicherung auf Gegenseitigkeit für Sicherheit (Mutual de Seguridad CChC) legte den Schwerpunkt auf Arbeitsschutz und Gesundheit während der Pandemie (siehe hierzu auch unsere Analyse zur Präventionsarbeit in Lateinamerika). Für ihn ist Flexibilität der Schlüsselbegriff, der die Antwort auf die Pandemie bestimmt hat. Jeder war plötzlich mit einer neuen Realität konfrontiert und Reaktionsgeschwindigkeit, Flexibilität und Zusammenarbeit waren entscheidend für eine wirksame Antwort. Am Arbeitsplatz erfolgte insbesondere die Umstellung von persönlichen auf virtuelle Treffen unvermittelt und fand weite Verbreitung. Über einen lösungsorientierten Ansatz wurden Protokolle und Arbeitsweisen geändert und aktualisiert. Herr Gutiérrez war von der Fähigkeit flexibel zu sein und sich anzupassen, angenehm überrascht; dies weist auch auf eine neue Realität im Arbeitsleben hin. Eine neue Überwachung und Verwendung von Daten ist ebenfalls wichtig, um Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zu gewährleisten, beispielsweise Daten über die Impffortschritte, die zur Grundlage für Entscheidungen für eine Rückkehr ins Büro werden können.
In Europa hatte Spanien in einem gewissen Zeitraum 2020 eine sehr rasche Ausbreitung von COVID-19 zu bewältigen (siehe unsere Analyse von Maßnahmen der sozialen Sicherheit in Spanien). Francisco De Argila Lefler von der Landesanstalt für soziale Sicherheit (Instituto Nacional de la Seguridad Social – INSS) gab einen Überblick über die laufende Verstärkung und Einführung neuer Systeme und legte dar, was für eine wichtige Rolle IKT bei der Bewältigung der Pandemie spielte. In diesem Zusammenhang drehte er die Problematik und fragte, was passieren würde, wenn die nächste Krise ein Angriff auf die IT-Strukturen wäre? Wie könnten wir angesichts der immer rascheren Umwandlung der sozialen Sicherheit in eine digitale Realität reagieren, wenn unsere digitalen Lösungen plötzlich abgeschaltet würden? Könnten wir zu traditionellen nichtdigitalen Lösungen zurückkehren? Wahrscheinlich nicht, was die Bedeutung von Back-up-Plänen und -Lösungen und der Vorbereitung auf die unerwartete Krise unterstreicht.
Hierzu betonte Indrek Holst, Generaldirektor von ENSIB, Estland, dass selbst die digitalisiertesten Länder, Institutionen und Systeme auf Herausforderungen stoßen, wenn sie auf eine Pandemie oder andere Krisen reagieren. Sein Land präsentiert sich gern als E-Estland und ist stolz darauf, dass 99% der Regierungsdienste online sind. Selbstverständlich erfolgte die estnische Antwort auf COVID-19 in hohem Maße digital, zum Beispiel mit einem effizienten digitalen Impfregister, das mit der Zahl und Verteilung von Impfstoffen verbunden ist. Zugleich betonte er wie andere die Bedrohung durch eine Cyberattacke und wie wichtig es sei, mit Daten sehr sorgfältig umzugehen. Im Bereich der noch möglichen Effizienzgewinne hob er hervor, dass Silos im öffentlichen Sektor unbedingt aufzubrechen seinen, um insbesondere das große Potenzial engerer Zusammenarbeit zwischen dem Sozial- und Gesundheitswesen zu nutzen.
Raúl Ruggia-Frick wies auf die Bedeutung dieser Lehren aus der Krise hin für die Verbesserung der Fähigkeit und Bereitschaft der Institutionen hin, um rasch Antworten einzuführen und die Kontinuität der Dienstleistungen im Kontext einer Krise zu gewährleisten. Die von den Institutionen vorgestellten Erfahrungen zeigen, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Organisationen ist, um die Qualität der Informationen über Leistungsempfänger und Beitragszahler zu erhalten, und die Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit, um sich rasch an neue Kontexte anzupassen, und ein solider Schutz für zentrale Systeme und Daten. Diese Elemente werden in den nächsten IVSS-Leitlinien über Kontinuität der Dienstleistungen der sozialen Sicherheit und Widerstandsfähigkeit der Institutionen berücksichtigt werden.
Auf Wiedersehen in Tallinn 2022
Das virtuelle IKT-Symposium wurde im Vorfeld der 16. Internationalen IVSS-Konferenz über Informations- und Kommunikationstechnologie in der sozialen Sicherheit organisiert. Ursprünglich sollte sie im Mai 2021 stattfinden, wegen COVID-19 musste sie aber auf Mai 2022 verschoben werden. Wie das virtuelle Symposium wird diese Veranstaltung im nächsten Jahr in Zusammenarbeit mit ENSIB organisiert. Ihr Generaldirektor Indrek Holst schloss das virtuelle Symposium indem er alle IVSS-Mitglieder für nächstes Jahr nach Tallinn einlud und ein kurzes Werbevideo für die Veranstaltung vorführte.