Die digitale Tagung des Weltkongresses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz am 5. und 6. Oktober 2020 war eine gute Gelegenheit, sich mit Arbeitsschutzfragen im Lichte der COVID-19-Pandemie zu befassen. Vordenker aus der ganzen Welt diskutierten darüber, welche Innovationen zur Bewältigung von COVID-19 am Arbeitsplatz eingeführt worden sind, wie die Pandemie die künftige Arbeitswelt verändern wird und wie wichtig es ist, eine Präventionskultur zu fördern. Die virtuelle Sondertagung war eine Ersatzveranstaltung für den XXII. Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz in Toronto, Kanada, der aufgrund der Pandemie auf September 2021 verschoben wurde.
Die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) organisierte an dieser virtuellen Zusammenkunft drei Sitzungen: (1) Vision Zero in Bewegung, (2) das Internationale Medienfestival für Prävention und (3) das Globale Forum für Arbeitsunfallversicherung. Dieser Artikel fasst die allgemeinen Botschaften der digitalen Tagung des Weltkongresses und der von der IVSS organisierten Sitzungen zusammen.
Herausforderungen und wichtigste Botschaften der digitalen Tagung des Weltkongresses
Die Unternehmen mussten sich im Verlauf der COVID-9-Pandemie an neue Arbeitsstandards und neue Lebensrealitäten anpassen. Millionen Menschen waren vorübergehend ohne Arbeit, während sich für andere die Art ihres Arbeitens grundlegend änderte. Dank technologischer Neuerungen ergaben sich mehr Möglichkeiten für Fernarbeit, und zugleich verringerten sich die persönlichen Kontakte, was psychosoziale Beschwerden zur Folge hatte. Die Anerkennungsverfahren für Berufskrankheiten mussten neu gestaltet werden (insbesondere bei Arbeitsbedingungen mit hohem COVID-19-Ansteckungsrisiko), um einen breiten Schutz anbieten zu können. Gemäß dem Übereinkommen über Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (Nr. 121) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) haben Arbeitnehmer das Recht auf eine sichere und gesunde Arbeitsumgebung, und die Wahrnehmung dieses Rechts wurde durch die Pandemie stark beeinträchtigt.
Die Institutionen der sozialen Sicherheit auf der ganzen Welt haben als Antwort auf diese Herausforderungen weitreichende Schritte unternommen und eine umfassende Deckung durch Präventionsleistungen sichergestellt. In Kanada nutzte die Ausgleichskasse für Arbeitnehmer Saskatchewans Gesetzesänderungen, um Arbeitnehmer und Arbeitgeber besser vor den Auswirkungen des Coronavirus zu schützen. Es wurde beschlossen, den Versicherungsschutz für eine Coronavirus-Erkrankung neu zu gestalten, damit COVID-19 von Arbeitgebern fortan als Berufskrankheit angesehen wird. Außerdem wurde eine proaktivere Beurteilung der Risikoexposition umgesetzt, so dass die meisten Anträge auf Auszahlung der COVID-19-Versicherungsleistung in der Provinz Saskatchewan nun proaktiv genehmigt werden, da Angestellte mit hohem COVID-19-Risiko am Arbeitsplatz schon im Voraus eine Entschädigung beantragen, noch bevor sie erkranken.
Im Bestreben, die Arbeitnehmer besser zu schützen, organisierte die Sozialversicherungskasse der Russischen Föderation kostenlose COVID-19-Tests sowie persönliche Schutzkleidung.
Selbstständige und informell Beschäftigte leiden am stärksten unter den Auswirkungen der Pandemie, da viele bei Lockdowns keine Verdienstmöglichkeit mehr haben. Weil diese Beschäftigtengruppe meist am schwierigsten zu erreichen ist und nur schwer durch soziale Sicherheit gedeckt werden kann, wurden für den Schutz dieser Menschen besondere Programme aufgelegt. In Zentral- und Ostafrika haben sich Kommunikationsstrategien anhand breit gestreuter Textnachrichten, lokaler Radiosender und besonderer TV-Programme als äußerst wirksam erwiesen, um informell Beschäftigte zu erreichen und sie dazu zu bewegen, dem System der sozialen Sicherheit beizutreten und es auch zu nutzen.
Die Koreanische Anstalt für Arbeitsunfallversicherung und Wohlfahrt (Korea Workers' Compensation and Welfare Service – COMWEL) setzt verstärkt auf einen digitalen Ansatz: Über das Smart Work AAA System können die Versicherten jederzeit von überallher mit unterschiedlichen Geräten mit der Anstalt kommunizieren. Bereits vor der Pandemie wurden 75 Prozent aller offiziellen Dokumente, die bei der COMWEL eingingen (einschließlich Anträge, Beschwerden und Einsprüche), online verschickt und erfasst. Nach dem Ausbruch von COVID-19 wurde praktisch sofort auf Telearbeit umgestellt, und das übliche Dienstleistungsangebot konnte aufrechterhalten werden. Dank des Systems sank auch die Zeit für den Arbeitsweg deutlich. Zur Vermeidung von Überstunden wurde der Zugang zum System für die Angestellten auf ihre jeweiligen Bürozeiten an Wochentagen beschränkt.
Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) und ihre gesetzlichen Unfallversicherungsträger haben für verschiedene Arbeitsfelder COVID-19-Leitlinien herausgegeben. Innerhalb von nur vier Wochen wurden für Hunderte von Unternehmen vollkommen neue branchenspezifische Handlungshilfen erstellt. Diese wurden digital an alle Arbeitgeber verschickt, damit sie die Präventionsvorkehrungen an jedem Arbeitsplatz umsetzen können.
Eröffnung und Podiumsdiskussionen
Die Sondertagung begann mit der Begrüßung durch die Präsidenten der kanadischen Gastgeberorganisationen, Dr. Cameron Mustard, Präsident des Instituts für Arbeit und Gesundheit (Institute for Work & Health – IWH), und Anne Tennier, Präsidentin des Kanadischen Zentrums für Arbeitsschutz (Canadian Centre for Occupational Health and Safety – CCOHS). In seiner Eröffnungsansprache bezeichnete IAO-Generaldirektor Guy Ryder die COVID-19-Krise als eine Krise, die gemeinsames Handeln erforderlich mache, damit sichergestellt werden könne, dass die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer an vorderster Front und im Zentrum der Maßnahmen gegen die Pandemie ständen. Und seitens der Systeme der sozialen Sicherheit mache die Pandemie einen Ausbau der Dienstleistungen erforderlich, damit die Arbeitnehmer nicht zwischen Leben und Lebensunterhalt entscheiden müssten. IVSS-Präsident Prof. Dr. Joachim Breuer verwies auf die über 1 000 Maßnahmen der sozialen Sicherheit, die in 200 Ländern seit dem Beginn der Pandemie entwickelt oder erweitert worden seien, wie dem IVSS-Monitor der Coronavirus-Ländermaßnahmen entnommen werden könne. Dabei betonte er hinsichtlich der Fähigkeit, solche Maßnahmen umzusetzen, auch die Kluft zwischen industrialisierten Ländern und Entwicklungsländern. Die kanadische Arbeitsministerin Filomena Tassi begrüßte die Teilnehmenden ihrerseits herzlich und sprach über Maßnahmen zum Ausbau der Einkommenshilfe für Arbeitnehmer und Betriebe sowie über den Informationsaustausch zwischen Regierungsebenen zur Entwicklung von Richtlinien für den Schutz von Beschäftigten am Arbeitsplatz.
Die Podiumsteilnehmer betonten, die wichtigste Entwicklung im Umgang mit der COVID-19-Pandemie liege im regelmäßigen Einsatz technologischer Hilfsmittel für einen besseren Informationsaustausch. Sie hätten eine Verlagerung hin zur Telearbeit ermöglicht, Online-Schulungen unterstützt (z. B. über COVID-19-Präventionsmaßnahmen) und der sozialen Sicherheit erlaubt, auch derzeit gesetzlich ungedeckte Beschäftigtengruppen wie informell und prekär Beschäftigte und Arbeitsmigranten zu erreichen.
Außerdem ist durch die COVID-19-Pandemie deutlich geworden, wie gefährdet Arbeitnehmer im informellen Sektor, in der Zeitarbeitsbranche und in der Plattform-Wirtschaft sind, und dieser Missstand hat sich durch den Wandel der Arbeitswelt weiter verschärft. Auch hier haben Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wie mobile Geräte und Internetlösungen dazu beigetragen, dass erfolgreiche Programme für das Erreichen gefährdeter Gruppen entwickelt werden konnten.
Workshops
Förderung einer Präventionskultur zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie
In Workshop A stellten die Podiumsteilnehmer fest, dass Arbeitsplätze und Branchen mit einer starken Präventionskultur es geschafft haben, das Vertrauen und die Zusammenarbeit der Sozialpartner am Arbeitsplatz zu nutzen. Dank der bereits vorhandenen Erkenntnisse über Risikoexposition und der Einsicht in die Notwendigkeit von Prävention konnten sie auf bestehenden Lernkulturen und starken Arbeitsschutzprogrammen aufbauen, um sich schnell an die neuen Herausforderungen durch COVID-19 anzupassen, die sich für die Gesundheit von Arbeitnehmern stellen. Die Teilnehmenden kamen deshalb zum Schluss, dass die Förderung und Aufrechterhaltung einer Präventionskultur ein gutes Instrument ist, um Herausforderungen durch COVID-19 am Arbeitsplatz zu begegnen. Institutionen, die eine Präventionskultur entwickeln oder diese weiter ausbauen möchten, seien auf Abschnitt B.9. (Förderung einer Präventionskultur) der Leitlinien der IVSS zur arbeitsplatzbezogenen Prävention verwiesen.
Belastbare und nachhaltige Arbeitsplätze angesichts der COVID-19-Pandemie
In Workshop B hoben die Podiumsteilnehmer hervor, dass Lücken in den Systemen der sozialen Sicherheit geschlossen werden müssten, wenn die wirtschaftliche Erholung vorangetrieben werden solle. Sie lobten auch den Wert der dreigliedrigen Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung, die ganz entscheidend sei, um die Geschäftskontinuität aufrechtzuerhalten, ohne dabei den Arbeitsschutz zu vernachlässigen.
Vision Zero in Bewegung
In diesem, von der IVSS organisierten Workshop C wurden die neuen Proaktiven Steuerindikatoren von Vision Zero vorgestellt, und das neue Vision Zero-Schulungsprogramm wurde lanciert. Vision Zero ist ein Präventionsansatz, der die drei Dimensionen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden bei der Arbeit auf allen Ebenen integriert. Das im September 2017 von der IVSS ins Leben gerufene Programm fand schnell eine breite Unterstützung von Regierungsstellen und Unternehmen rund um die Welt und genießt in der Welt der Fachleute, Organisationen und Firmen im Bereich Arbeitsschutz ein hohes Ansehen. Was als Kampagne begann, ist nach und nach zu einer globalen Strategie zur Verbesserung von Präventionsergebnissen auf allen Ebenen geworden. Auf Ersuchen der Arbeitsschutzgemeinschaft arbeitet der Besondere Ausschuss für Prävention der IVSS eng mit Unternehmen, Institutionen der sozialen Sicherheit, Wissenschaftlern und Anbietern von Arbeitsschulungen zusammen, um die Strategie Vision Zero durch neue Produkte und Dienstleistungen zu ergänzen.
- Die neuen proaktiven Steuerungsindikatoren von Vision Zero sind ein Meilenstein in der Einführung von Vision Zero am Arbeitsplatz. Anstatt einer Checkliste, wie sie im ursprünglichen Leitfaden für Vision Zero vorgeschlagen wurde, bieten sie ein ausgefeiltes System zur Erfassung von Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden in Betrieben durch verschiedene messbare Indikatoren, die sodann ein Instrument für Benchmarking-Zwecke liefern.
- Das neue akkreditierte Schulungsprogramm von Vision Zero beruht auf einer Partnerschaft zwischen der Anstalt für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (Institution of Occupational Safety and Health – IOSH) und der IVSS. Während die Welt im Bann der COVID-19-Pandemie nach Wegen für ein sichereres und besseres Leben sucht, bietet dieses Schulungsprogramm Möglichkeiten für Schulungsleiter und -leiterinnen im Bereich Arbeitsschutz, die das zertifizierte Schulungsmaterial der IOSH nutzen möchten, um Vision Zero im ganzen Unternehmen bekannt zu machen und damit einen Beitrag zu sichereren und gesünderen Arbeitsplätzen zu leisten. Bei der Vorstellung sagte Marcelo Abi-Ramia Caetano, Generalsekretär der IVSS: „Gemeinsam werden IVSS und IOSH für die Entwicklung von Schulungskapazitäten hoher Qualität auf der Grundlage der 7 Goldenen Regeln von Vision Zero sorgen. Dies ist ein wichtiger Meilenstein für Fortschritte auf dem Weg in eine Welt ohne Krankheiten, Unfälle und Todesfälle am Arbeitsplatz.“ Über 1 300 Arbeitsschutz-Dozenten haben Vision Zero bereits unterzeichnet und Vision Zero-Schulungen selbst durchgeführt oder unterstützt.
Internationales Medienfestival für Prävention
Die Internationalen Sektionen für Prävention der IVSS für Elektrizität, Gas und Wasser sowie für Information über Prävention richten das Internationale Medienfestival für Prävention (IMFP) im Rahmen des Weltkongresses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz bereits seit 1990 aus. Dieses Jahr fand die erste digitale Zusammenkunft statt, an der die 50 Projekte der engeren Auswahl für das diesjährige Festival bekanntgegeben wurden. Die Gewinner werden dann im September 2021 auf dem Weltkongress in Toronto vorgestellt.
Das Globale Forum für Arbeitsunfallversicherung
Die IVSS und der IVSS-Fachausschuss für die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten organisierten auf Einladung der Sozialversicherungskasse der Russischen Föderation das Globale Forum für Arbeitsunfallversicherung, an dem führende Experten und Fachleute von Institutionen der sozialen Sicherheit über präventionsbezogene Fragen für Ausgleichskassen und Arbeitsunfallversicherungen diskutierten. Im Fokus standen verschiedene Themen der Prävention, Kommunikation, Innovation, Nachhaltigkeit und Belastbarkeit, wobei insbesondere auch mögliche Antworten auf Krankheitsausbrüche und Extremereignisse wie die COVID-19-Pandemie angesprochen wurden.
Andrey Pudov, Staatssekretär und stellvertretender Minister für Arbeit und Sozialschutz der Russischen Föderation, betonte, dass die internationale Gemeinschaft in allen Bereichen gegen COVID-19 gemeinsam tätig werden müsse, so auch im Bereich der Arbeitsunfallversicherung. Die russische Regierung hat bereits besondere Maßnahmen zur Risikoeindämmung für medizinisches Personal und die anfälligsten Beschäftigten (über 65 Jahre) eingeleitet. Im Rahmen ihrer Unterstützung machte es die Sozialversicherungskasse der Russischen Föderation zur Erleichterung des Schriftverkehrs mit staatlichen Behörden möglich, dass Anträge und Dienstleistungen nun online eingereicht und erbracht werden können. Andrey Pudov erklärte, dass jede Arbeitsunfallversicherung ihre Strategie weg von Ausgleichszahlungen hin zur Prävention von Berufskrankheiten umstellen sollte. Die Leitlinien der IVSS zur arbeitsplatzbezogenen Prävention seien diesbezüglich eine ausgezeichnete Vorlage. Die Sozialversicherungskasse der Russischen Föderation erachtet es denn auch als vordringlich, dass Angestellte durch Vermeidung gesundheitsschädlicher Arbeitsbedingungen und durch Einführung eines Arbeitsschutz-Managementsystems geschützt werden, mit dem die Gesundheit der Angestellten während ihres gesamten Erwerbslebens überwacht werden kann.
Die anderen Podiumsteilnehmer dieser Sitzung verwiesen darauf, dass einer der zentralen Aspekte für ein erfolgreiches Ausgleichssystem für Beschäftigte im Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatlichen Stellen der sozialen Sicherheit liege. Diese Behörden hätten die Interessen der Versicherten auf politischer Ebene zu vertreten, neue Bestimmungen auszuarbeiten und die Unternehmen davon zu überzeugen, dass Sicherheit und Gesundheit keine Hindernisse sind, sondern die Grundlage für geschäftlichen Erfolg. Zu den weiteren wichtigen Aspekten gehörten Führungsstärke, Risikomanagement und Prozesskontinuität, neue technische Lösungen wie Video-Konferenzen sowie angepasste Arbeitsregelungen wie Telearbeit und flexible Arbeitsstunden für die Mitarbeitenden. Zur Verbesserung des öffentlichen Rufs der Institutionen sollte die Kommunikation mit internen und externen Zielgruppen bis ins letzte Detail geplant werden. Ein weiterer wichtiger Bereich sei das Datenmanagement, so dass von allen möglichen Endgeräten auf Datenbanken zugegriffen werden könne und Probleme gelöst werden könnten, ohne den Datenschutz zu gefährden.
Die Video-Aufzeichnungen der digitalen Tagung des Weltkongresses finden Sie hier. Der XXII. Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit wird vom 19. bis 22. September 2021 online stattfinden. Weitere Informationen finden Sie auf https://www.safety2021canada.com/.