Die Leitlinien der IVSS über administrative Lösungen für die Deckungsausweitung sollen die Fähigkeit der Verwaltungen der sozialen Sicherheit stärken, wirksame beitragspflichtige Programme anzubieten und die Ausweitung der Deckung auf Bevölkerungsgruppen voranzutreiben, die schwer zu decken sind. Im Kontext dieser Leitlinien werden sehr unterschiedliche Beschäftigtengruppen als schwer zu deckend bezeichnet, wie etwa Selbstständige, Beschäftigte im Zusammenhang mit dem Begriff der „fehlenden Mitte“, Arbeitsmigranten und Hausangestellte, die oft im informellen Sektor arbeiten, sowie Beschäftigte der Landwirtschaft und der Fischerei.
Eine universelle Deckung der sozialen Sicherheit kann durch eine Kombination folgender Programme erreicht werden: obligatorische beitragspflichtige Programme, subventionierte beitragspflichtige Programme (bei denen ein Teil der Prämie durch Steuern finanziert wird), nichtbeitragspflichtige steuerfinanzierte Programme, freiwillige beitragspflichtige Programme und Programme mit Sachleistungen. Besondere nationale Gegebenheiten verlangen landesspezifische Ansätze. Universelle nichtbeitragspflichtige bzw. steuerfinanzierte Basisprogramme können zwar innerhalb relativ kurzer Zeit realisiert werden – die Entwicklung mobiler Technologien trägt beispielsweise zu einer schnelleren Deckungsausweitung bei –, aber viele Länder führen beitragspflichtige Programme der sozialen Sicherheit schrittweise ein und weiten sie schrittweise aus, ähnlich wie bei der früheren Ausweitung der sozialen Sicherheit im zwanzigsten Jahrhundert, als zuerst ausgewählte Gruppen von Beschäftigten und Arbeitgebern einen Zugang erhielten. Vorrangig sind zunächst diejenigen Gruppen, die am besten in der Lage sind, eine Registrierung durch die Verwaltungen zu erreichen und regelmäßig Beiträge zu entrichten. Sodann versuchen die Länder je nach den Entwicklungen der Arbeitsmärkte und den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritten, nach und nach eine umfassendere nationale Deckung der sozialen Sicherheit (in Tragweite und Tiefe) zu erreichen. Dabei wird oft ein Entwicklungsansatz in fünf Schritten verfolgt, das heißt, von gar keiner Erbringung bis hin zur Einführung eines ersten Programms, von einer beschränkten hin zu einer größeren Zahl gedeckter Menschen, von einem einzigen Programm hin zu einer umfassenderen Deckung von mehr Risiken, von einem grundlegenden hin zu einem großzügigeren Leistungsniveau und von zersplitterten Systemen hin zu stärker koordinierten und integrierten Systemen, die auch Faktoren wie Angemessenheit, Gerechtigkeit, Übertragbarkeit und langfristige Tragfähigkeit berücksichtigen.
Die bisher bestehenden internationalen Standards der sozialen Sicherheit wurden erweitert durch die Empfehlung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zum innerstaatlichen sozialen Basisschutz, 2012 (Nr. 202), die zum Ziel hat, allen Mitgliedern der Gesellschaft einen wirksamen Zugang zu mindestens einem grundlegenden Niveau der sozialen Sicherheit während des gesamten Lebens zu gewähren. Die IAO-Empfehlung gibt eine Anleitung für ein Deckungsangebot für alle und schließt damit auch zuvor nicht gedeckte Menschen mit ein, ein wichtiger Teil der Bevölkerung, der in vielen Ländern Beschäftigte des informellen Sektors und ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörige umfasst.
Die Einrichtung und Erhaltung einer nationalen sozialen Grundsicherung ist von entscheidender Bedeutung für die Ausweitung der Deckung der sozialen Sicherheit. Gemäß den normativen Instrumenten der IAO sollte eine soziale Grundsicherung auf nationaler Ebene mindestens folgende Basisgarantien der sozialen Sicherheit umfassen:
- universeller Zugang zu Gesundheitsdiensten einschließlich Mütterversorgung;
- sicheres Grundeinkommen für Kinder, das einen Zugang zu Ernährung, Bildung, medizinischer Versorgung und anderen essentiellen Gütern und Dienstleistungen erlaubt;
- sicheres Grundeinkommen für Personen im arbeitsfähigen Alter, die nicht in der Lage sind, genug Einkommen zu generieren, insbesondere in Fällen von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft und Behinderung;
- sicheres Grundeinkommen für ältere Menschen.
Zudem anerkennt die Empfehlung der IAO zum Übergang von der informellen zur formellen Wirtschaft, 2015 (Nr. 204), den fehlenden Schutz von Beschäftigten im informellen Sektor und bietet eine Anleitung zur Verbesserung ihres Sozialschutzes und zur Förderung Ihres Übergangs in eine formelle Beschäftigung.
Die administrativen Lösungen, die in diesen Leitlinien vorgeschlagen werden, sind bei der Umsetzung dieser beiden Empfehlungen in vielerlei Hinsicht nützlich.
Programme der sozialen Sicherheit haben stets explizite und oft vielfache Ziele (wie etwa Armutsminderung, Umverteilung, Konsumglättung, Versicherung). Diese Ziele bestimmen weitgehend, welcher Mechanismus der Programmfinanzierung gewählt wird. Nichtbeitragspflichtige Programme entfalten zwar eine besonders positive Wirkung auf die Armutsminderung und haben in vielen Ländern zu einer schnellen Ausweitung der Grunddeckung geführt – insbesondere für die weibliche Bevölkerung sowie für gefährdete und benachteiligte Gruppen –, für die Einführung und Ausweitung solcher Systeme ist aber die langfristige Widmung finanzieller Ressourcen nötig. Programme, die entworfen wurden, um Beschäftigte für Einkommensverluste zu kompensieren, weil sie wirtschaftlich inaktiv waren oder weil sie nach dem Austritt aus der Erwerbsbevölkerung in den Ruhestand getreten sind, werden meist hauptsächlich durch Beiträge von den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern finanziert. Bei beitragspflichtigen Programmen wird erwartet, dass das Leistungsniveau in einem bestimmten Maß an den früheren Verdienst des Beschäftigten gekoppelt ist; je nach nationalem wirtschaftlichem Kontext bestimmt dieses Maß die relative (konsumglättende) Angemessenheit des Geldwerts der Leistungen. Mit der Verbesserung des Lebensstandards der Menschen und den steigenden Erwartungen können die Tragweite und die Tiefe der Deckung durch die soziale Sicherheit je nach Haushaltseinkommen, finanziellem Spielraum und institutionellen Kapazitäten erweitert werden. Um sicherzustellen, dass die verschiedenen Ziele der Programme innerhalb eines nationalen Systems der sozialen Sicherheit auf tragfähige Weise erreicht werden, müssen die beitragspflichtigen und nichtbeitragspflichtigen Finanzierungsmechanismen kohärent eingesetzt werden, und die relativen positiven und negativen Anreize für Beschäftigte, Arbeitgeber und die gedeckte Bevölkerung, die durch die Verwendung sowohl beitragspflichtiger als auch nichtbeitragspflichtiger Deckungsmechanismen entstehen, müssen berücksichtigt werden.
Praktisch ist, dass für die Manager solcher Programme viele Funktionen ähnlich sind. Im Hinblick auf eine verbesserte Verwaltung kann beim Vergleich von Registrierungsmechanismen, Backoffice-Prozessen, Kommunikation, Dienstleistungserbringung, Leistungsauszahlung und Beschwerdeverfahren viel gewonnen werden, wenn diese Ähnlichkeiten genutzt und möglichst kompatible Geschäftsansätze entwickelt werden. Zudem sollten die Leistungen der Programme einen Anreiz zum Beitritt bilden.
Bei beitragspflichtigen Programmen besteht die erklärte Priorität der Bevölkerungsdeckung oft in der Sicherung eines wirksamen Zugangs zu einer erschwinglichen Krankenversicherung hoher Qualität. Die institutionelle Praxis der sozialen Sicherheit sieht so aus, dass die meisten beitragspflichtigen Programme, welche Geldleistungen für formell Erwerbstätige anbieten, diejenigen für Alter, Invalidität und Hinterbliebene sind, dicht gefolgt von Arbeitsunfällen und Krankenversicherung. Beitragspflichtige Programme der Langzeitpflege sind auch in den am weitesten entwickelten Volkswirtschaften selten, was angesichts der Bevölkerungsalterung mittelfristig sicherlich behoben werden sollte. Arbeitslosenversicherungsprogramme werden allmählich verbreiteter, sind jedoch in weniger als der Hälfte der Länder weltweit vorhanden. In vielen Ländern werden Geldleistungen für Krankheit, Mutterschaft und Familienbeihilfen durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanziert.
Soll die Deckung weiter ausgeweitet und die formalisierte Arbeit stärker gefördert werden, dann sollten die Verwaltung und Gestaltung beitragspflichtiger Programme mehr auf die Eigenschaften und besonderen Umstände derjenigen Gruppen eingehen, die schwer zu decken (oder schwer zu erreichen) sind. Zu diesen Umständen gehören:
- Häufige Wechsel der Arbeitsstellen und Arbeitsorte. Für die Verwaltungen der sozialen Sicherheit bringen diese häufigen Wechsel Schwierigkeiten bei Registrierung, Aktenführung und Beitragseinzug mit sich, aber auch bei der Zusammenlegung der Leistungsansprüche, vor allem, wenn die Systeme je nach Bevölkerungsgruppe und Region unterschiedlich sind und es an einer wirksamen Koordination und einem angemessenen System der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) fehlt. Unter diesen Umständen liegen die Herausforderungen in der mehrfachen Registrierung und der mehrfachen Leistungsauszahlung, die zu Integritätsproblemen und zu erhöhten Programmkosten führen können. Aus diesem Grund ist eine weitergefasste und verbesserte Koordination zwischen den verschiedenen Systemen nötig.
- Niedrige und fluktuierende Beitragskapazität. Bei solchen Bedingungen ist es nicht leicht, eine angemessene Basis für die Berechnung der Beiträge und Leistungen festzulegen, wobei sich die vollständige und regelmäßige Beitragsentrichtung auch für vorrangige Bereiche wie Gesundheit und langfristige Leistungen wie Altersrenten schwierig gestaltet. Die Beitragssätze und die damit verknüpften Leistungsstrukturen sollten auf die Beitragskapazität von Beschäftigten mit niedrigen und fluktuierenden (auch saisonalen) Einkommensflüssen abgestimmt sein. Zugleich können Anreize gesetzt werden wie etwa durch Prämiensubventionen, um die Beitragsentrichtung zu unterstützen.
- Kein formelles Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Arbeitgeber stellen eine formelle Schnittstelle mit der Institution für soziale Sicherheit dar, oft mit einer rechtlichen Verpflichtung hinsichtlich der Registrierung ihrer Angestellten und der fristgemäßen und vollständigen Zahlung der eigenen Beiträge und derjenigen ihrer Beschäftigten. Die Herausforderung für die Institution der sozialen Sicherheit besteht darin, angemessene Verwaltungslösungen zu entwickeln, mit denen Erwerbstätige unterstützt werden können, die nicht in der regulierten formellen Wirtschaft tätig sind oder die selbstständig sind, um die Verwaltungsprozesse zu vereinfachen und bürokratische Hindernisse bei der der Registrierung, Beitritt und Beitragsentrichtung zu beseitigen.
- Geringerer Bildungsstand. Schwer zu erreichende Bevölkerungsgruppen sind oft weniger gebildet und manchmal der offiziellen Landessprache nicht mächtig, wie etwa im Fall von Arbeitsmigranten. Manche verfügen auch nicht über die Fähigkeiten, moderne internetbasierte Geräte zu nutzen, oder sie haben keinen Zugang dazu.
- Weniger Verbandsstrukturen als bei Beschäftigten der formellen Wirtschaft. Erwerbstätige aus schwer zu deckenden Gruppen sind oft weniger in Verbänden organisiert als Beschäftigte der formellen Wirtschaft. Bestehen Gewerkschaften oder Berufsgenossenschaften wie Kooperativen, Fischereivereinigungen oder Organisationen für Arbeitsmigranten, dann können die Institutionen der sozialen Sicherheit auf eine Zusammenarbeit mit diesen Verbänden setzen, die durch die Registrierung und den Beitragseinzug als Brücke zu einer Formalisierung dieser Erwerbstätigen wirken.
- Hindernisse beim Verwaltungszugang. Fehlende Ausweisdokumente, Schwierigkeiten bei der Kommunikation in der offiziellen Sprache oder mit herkömmlichen Kommunikationsgeräten, geografische Abgelegenheit, Diskriminierungen und Stigmata bestimmter Gruppen wie etwa von Hausangestellten und ein fehlender Zugang zu formellen Banken und Finanzdienstleistern sind einige der Hindernisse, die verglichen mit Programmen für Beschäftigte der formellen Wirtschaft zu höheren Verwaltungskosten für die Programme führen können. Die Herausforderung liegt darin, angemessene und kostengünstige Mittel für einen verbesserten Zugang einzusetzen, beispielsweise durch moderne Kommunikationskanäle, gut ausgestattete mobile Geschäftsstellen und Drittorganisationen innerhalb der Gemeinschaften.