Die Institutionen der sozialen Sicherheit sind wichtige Aushängeschilder der Regierungen. Die Menschen wenden sich an die Systeme der sozialen Sicherheit, um Unterstützung zu erhalten, insbesondere wenn sie in verschiedenen Phasen ihres Lebens in Not geraten. Während die finanzielle Tragfähigkeit der Programme für die Verwalter der sozialen Sicherheit ein ständiges Anliegen ist, erfordert die Erfüllung der täglichen Nachfrage nach Geld- und Sachleistungen seitens der Öffentlichkeit größere Aufmerksamkeit und schnelleres Handeln. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zunehmend eine vorhersehbare und pünktliche Erbringung von Geld- und Sachleistungen der sozialen Sicherheit, sowohl unter normalen Umständen als auch in sehr schwierigen und extremen Situationen, wie die jüngsten Erfahrungen mit der COVID-19-Pandemie gezeigt haben.
Unvorhergesehene Schocks und Extremereignisse können die Leistungsfähigkeit der Institutionen der sozialen Sicherheit erheblich belasten und überfordern, was zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen bei der Bereitstellung von Geld- und Sachleistungen und letztlich zu einem Verlust des öffentlichen Vertrauens führen kann. Die Pandemie führt uns unmissverständlich vor Augen, dass sich die Öffentlichkeit darauf verlässt, dass die Verwalter der sozialen Sicherheit das Versprechen einhalten, die soziale Sicherheit auch unter widrigen Umständen unverzüglich zu gewährleisten. Da Schocks leicht zu sozialen Krisen führen können, müssen die Institutionen der sozialen Sicherheit in der Lage sein, Ressourcen schnell zu skalieren und bereitzustellen und mit anderen staatlichen Stellen im Rahmen einer abgestimmten nationalen Reaktion zusammenzuarbeiten.
Ein immer breiteres Spektrum an Schocks und Extremereignissen beeinflusst die Arbeit der Institutionen der sozialen Sicherheit. Sozioökonomische und humanitäre Krisen erfordern außergewöhnliche gesellschaftliche Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Bevölkerungsgruppen. Naturkatastrophen wirken sich auf die Dienstleistungen der sozialen Sicherheit aus und erfordern spezifische Maßnahmen zur sozialen Unterstützung. Andere Arten von physischen Vorfällen, wie Brände, können die institutionelle Infrastruktur zerstören und zu massiven Dienstunterbrechungen führen. Darüber hinaus sind die Institutionen durch die zunehmende Digitalisierung der Verwaltung der sozialen Sicherheit neuen Cyberrisiken und Schwachstellen ausgesetzt, wie im Bericht der IVSS Verbesserter Schutz und erhöhte Cyberresilienz von Verwaltungen der sozialen Sicherheit – Einführung in die Cybersicherheit (2021) und dem Bericht der IVSS Digitale operative Resilienz (2022) beschrieben.
Ein Schock kann unter Umständen alles durcheinander bringen, nicht zuletzt die Personal- und IKT-Ressourcen, die Geschäftsprozesse, die Programme sowie die Erbringung von Dienstleistungen. Die Institutionen der sozialen Sicherheit müssen auf derartige Störungen vorbereitet und in der Lage sein, die Normalität und die Geschäftskontinuität mühelos und zuverlässig wiederherzustellen. Es gilt, die Stärken der Organisation zu ermitteln und – was ebenso wichtig ist – die Schwächen zu beseitigen, unabhängig davon, ob diese auf Defizite in der Organisation, der Entscheidungsfindung, den Geschäftsprozessen, der Infrastruktur, den Vermögenswerten oder den Aktivitäten zurückzuführen sind. Schockfestigkeit bedeutet, dass die bislang schwachen Glieder korrigiert und gestärkt werden müssen, um sicherzustellen, dass die gesamte institutionelle Struktur zukünftigen Störereignissen standhält und sich als widerstandsfähig erweist.
Die Vorbereitung der Institution auf widrige Ereignisse vermittelt der Öffentlichkeit und dem Personal der Institution ein hohes Maß an Stabilität und Vertrauen. Stresserprobte und risikoarme Systeme und Ressourcen ermöglichen eine Position der Stärke, aus der heraus die Institution die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger mit minimalen Betriebsunterbrechungen bedienen kann. Unabhängig vom Entwicklungsstadium einer Institution haben die letzten Jahre gezeigt, wie wichtig es ist, die Geschäftskontinuität und Widerstandsfähigkeit als zentrales Governance-Element in der Verwaltung der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen. Sollte ein widriges Ereignis eintreten, für das keine Notfallpläne vorliegen, könnten sich reaktive Maßnahmen als unzureichend oder zu spät erweisen und kostspieligere kurzfristige Notlösungen erfordern, die das Ansehen einer Institution oder das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht wahren können.
Damit Institutionen widerstandsfähig sind, müssen sie zwingend Pläne für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs erstellen, mit denen unvorhergesehene Krisen antizipiert werden können. Derartige Pläne versetzen die Systeme und Ressourcen der jeweiligen Institution in die Lage, zur Lösung beizutragen, anstatt die zu bewältigende Herausforderung zu erschweren, und sie ermöglichen es der Institution, bei der Bewältigung einer Krise flexibel zu agieren und die Leistungsempfänger und die versicherte Bevölkerung proaktiv zu schützen.
Die Unvorhersehbarkeit von Schocks und Extremereignissen verdeutlicht die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, solche Ereignisse schnell zu erkennen, auf sie zu reagieren und widerstandsfähig dagegen zu werden. Die Leitlinien der IVSS für die Kontinuität und Widerstandsfähigkeit von Dienstleistungen und Systemen der sozialen Sicherheit sollen eine Orientierungshilfe dafür bieten, wie sich die Institutionen der sozialen Sicherheit angesichts unvorhergesehener Ereignisse vorbereiten, stärken sowie die Erbringung von Geld- und Sachleistungen aufrechterhalten können, indem sie einen Ansatz zur Bündelung der Bemühungen in verschiedenen Bereichen erarbeiten.
Es gibt zwar Rahmenwerke und Standards für die Geschäftskontinuität, diese sind jedoch sehr allgemein gehalten und nicht auf die besonderen Bedürfnisse von Programmen und Institutionen der sozialen Sicherheit zugeschnitten. Die vorliegenden Leitlinien schließen diese Lücke und gehen auf die Besonderheiten der Verwaltung der sozialen Sicherheit ein, insbesondere auf die erforderliche Widerstandsfähigkeit und Vorbereitung auf unvorhergesehene, extreme Ereignisse. Die Leitlinien der IVSS für die Kontinuität und Widerstandsfähigkeit von Dienstleistungen und Systemen der sozialen Sicherheit bilden eine Ergänzung zu den übrigen Leitlinien der IVSS sowie zu den geltenden internationalen Normen, um den Mangel an spezifischen Orientierungshilfen für die Verwaltung der sozialen Sicherheit zu beheben.