Auf dem Weg zu einer nutzerzentrierten Gestaltung und zu agilen Methoden in Institutionen der sozialen Sicherheit

Auf dem Weg zu einer nutzerzentrierten Gestaltung und zu agilen Methoden in Institutionen der sozialen Sicherheit

Beim Ausbau ihrer digitalen Dienstleistungen setzen die Institutionen der sozialen Sicherheit vermehrt auf eine nutzerzentrierte Gestaltung und auf agile Methoden für eine personenorientierte Dienstleistungserbringung. Dieser Artikel beschreibt neuste Praxis, die Bedeutung von agilen Ansätzen und Design Thinking sowie hindernde und begünstigende Faktoren.

Viele Institutionen der sozialen Sicherheit konnten erfolgreich digitale Dienstleistungen einführen, weil ihre Nutzer bereits über gute digitale Kompetenzen verfügten. Die digitalen Nutzer, beispielsweise die Arbeitgeber oder das Personal der sozialen Sicherheit, profitierten von diesen digitalisierten Dienstleistungen, da die Vorteile sehr viel größer waren als die Investitionen für den Aufbau des neuen digitalen Umfelds oder für die Anpassung daran.

In den letzten Jahrzehnten ging man bei der Gestaltung von Dienstleistungen meist von dem aus, was die Mitarbeitenden der sozialen Sicherheit als Nutzerbedürfnisse betrachteten. Die erste Generation digitaler Dienstleistungen war daher auf die Bedürfnisse, Arbeitsabläufe und Funktionen der Dienstleistungsanbieter selbst – also der Regierungsstellen – ausgerichtet. Dabei wurden meist bestehende Dienstleistungen automatisiert, und die papierbasierten Akten wurden digitalisiert, um Effizienzgewinne zu erzielen.

Dadurch konnten die Institutionen der sozialen Sicherheit zwar viele neue Nutzer gewinnen, aber diese mussten weiterhin gewisse digitale Kompetenzen mitbringen, um sich im neuen digitalen Umfeld zurechtzufinden. In den vergangenen fünf Jahren haben sich die Institutionen der sozialen Sicherheit nun weiterentwickelt: Sie berücksichtigen mittlerweile auch die sehr unterschiedlichen und spezifischen Bedürfnisse und digitalen Kompetenzen verschiedener Gruppen, und die digitalen Dienstleistungen werden auf die Besonderheiten ihrer Nutzer abgestimmt. Dieser Strategiewandel hat dazu geführt, dass die Institutionen der sozialen Sicherheit nicht mehr nur eine Einheitslösung für alle, sondern verschiedene nutzerzentrierte Lösungen anbieten, bei denen die Zugehörigkeit der Nutzer zu verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Kompetenzen entscheidend ist.

Zwar hat sich die digitale Transformation durch die Coronakrise beschleunigt, aber die tatsächliche Nutzung digitaler Dienstleistungen blieb auch in fortgeschrittenen Ländern stets eine große Herausforderung (Welby und Hui Yan Tan, 2022). Bei der Einführung digitaler Dienstleistungen hakt es oft daran, dass sie nicht ausreichend nutzerfreundlich gestaltet werden. So ergab eine nach Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 durchgeführte Studie bei 24 500 Bürgern aus 36 Ländern, dass nur bei der Hälfte der Menschen alle oder die meisten Bedürfnisse durch Onlinedienstleistungen befriedigt werden. Sieben von zehn Befragten gaben an, bei der letzten digitalen Interaktion mit einer Regierungsstelle Probleme gehabt zu haben (Mailes, Carrasco und Arcuri, 2021).

Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen setzen immer mehr Regierungen nicht mehr auf einen staatlich ausgerichteten Ansatz, sondern auf einen nutzer- oder bürgerzentrierten Ansatz der digitalen Transformation (OECD, 2009; Weltbank, 2022). Bei dieser nutzerzentrierten Gestaltung geht es letztlich darum, die unterschiedlichen Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer zu berücksichtigen. In diesem Ansatz arbeiten die Regierungen bei Gestaltung, Prototypen, Tests und Skalierung der Dienstleistungen aktiv mit den Nutzern zusammen. Untersuchungen haben gezeigt, dass durch nutzerzentrierte Ansätze digitale Dienstleistungen entwickelt werden, die besser auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt sind und die für eine breitere Zielgruppe eine größere Bedienfreundlichkeit und Zuverlässigkeit bieten (Weltbank, 2022).

Design Thinking und agile Methoden

Eine der wichtigen Methoden, mit denen sich nutzerzentrierte Produkte und Dienstleistungen entwerfen und gestalten lassen, ist das sogenannte Design Thinking. Eine Einführung von Design Thinking umfasst die folgenden fünf Schritte: Einfühlung und Sammlung von Nutzer-Informationen; Beschreibung des Problems; Ideenfindung zur Entwicklung von Lösungen; Entwurf von Prototypen; Testen der Dienstleistung. Anders als bei herkömmlichen Ansätzen, bei denen die Institutionen nach dem Entwicklungszyklus die Akzeptanz der Nutzer testeten, um vor der Einführung eventuelle Fehler auszumerzen, werden beim Design Thinking die Nutzer direkt mit eingebunden und in jedem der fünf Entwicklungsschritte um Rückmeldungen gebeten.

Bei der Entwicklung nutzerzentrierter Anwendungen werden Methoden der Anwendungsentwicklung eingesetzt, die auf Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) beruhen. Für die Umsetzung eines derartigen Design-Thinking-Ansatzes sind agile Methoden unerlässlich. In der Vergangenheit wurden öffentliche digitale Dienstleistungen stets nach dem Ansatz des „Wasseranfalls“ entwickelt: Geschäftliche Nutzer der Institutionen entwickelten gemeinsam mit Strategieteams einen Ansatz, bevor dann ein Beschaffungs- oder ein internes Anwendungsanalyseteam einsprang, die Vorgaben festlegte und externe Anbieter beauftragte, die sodann die fertige Dienstleistung an das vierten Team, das Betriebsteam, übergaben (Welby und Hui Yan Tan, 2022). Bei diesem fragmentierten Ansatz mit getrennten Stufen ist es nicht oder nur schwer möglich, ein gemeinsames Verständnis der Ziele für die Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung zu erlangen, und so wird das Potenzial der Dienstleistungsdigitalisierung nicht voll ausgeschöpft.

Agile Methoden hingegen fördern die bereichsübergreifende Zusammenarbeit und einen iterativen Ansatz des Testens und Lernens bei der Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen. Dabei dürfen die Teams ausprobieren, zu Beginn auch einmal Fehler machen und können den Kurs dann dank der gezogenen Lehren korrigieren. Schätzungen zufolge erbringen agile Methoden eine um 10 bis 20 Prozent höhere Nutzerzufriedenheit, eine zwei bis vier Mal schnellere Bereitstellung neuer Produkte und eine Senkung der Entwicklungskosten um 15 bis 25 Prozent (Awad et al., 2022). Anders gesagt erlauben es nutzerzentrierte und agile Methoden den Institutionen der sozialen Sicherheit, die Effizienzgewinne der herkömmlichen Ansätze noch weiter zu steigern. Darüber hinaus fördern sie die Inklusion durch neue Ansätze, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten einer breiteren Nutzerbasis abgestimmt sind. Und sie bieten mehr Menschen Zugang zu Dienstleistungen und decken breitere Bevölkerungsteile ab.

Schaubild 1. Design Thinking: Prozess

Figure 1 - Design thinking process

Erfahrungen von IVSS-Mitgliedsinstitutionen

Angesichts des steigenden Drucks, nutzerzentrierte Produkte und Dienstleistungen anzubieten, haben die Institutionen der sozialen Sicherheit in den letzten Jahren damit begonnen, Design Thinking und agile Methoden einzuführen. Dazu wurden disziplinübergreifende Teams gebildet, in denen Vertreter verschiedener Abteilungen gemeinsam mit Vertretern der Nutzer an der Gestaltung der Produkte arbeiten. Als wichtige Verwaltungspraxis hat sich in vielen Institutionen der sozialen Sicherheit der Ansatz „standardmäßig kollaborativ“ herausgebildet (IVSS, 2021).

Die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) steht ihren Mitgliedern beim Wechsel zu dieser Praxis durch eine Unterstützung unterschiedlicher Art bei. In Leitlinie 9 der Leitlinien der IVSS zur Dienstleistungsqualität werden die fünf Schritte beschrieben, die zur Einführung von Design Thinking in Institutionen der sozialen Sicherheit empfohlen werden (IVSS, 2019). In Leitlinie 14 der Leitlinien der IVSS über Informations- und Kommunikationstechnologie wird erklärt, wie die Träger durch agile Methoden und sogenannte DevOps-Ansätze eine bessere Abstimmung zwischen Geschäfts-, Entwicklungs- und Betriebsbereich erreichen können (IVSS, 2022a). Außerdem bietet Abschnitt B.4.2 der jüngst erschienenen Leitlinien der IVSS für die Kontinuität und Widerstandsfähigkeit von Dienstleistungen und Systemen der sozialen Sicherheit (IVSS, 2022b) Hinweise dazu, wie sich mit agiler Entwicklung und agilen Betriebsabläufen eine Betriebskontinuität erreichen lässt. Zudem wurden in einer Sondersitzung über den Aufbau elektronischer Dienstleistungen für die Leistungsempfänger auf der 16. Internationalen IVSS‑Konferenz über Informations- und Kommunikationstechnologie in der sozialen Sicherheit sowie in verschiedenen Webinaren neuste Erfahrungen zu diesem Thema vorgestellt. Darüber hinaus befasste sich eine Parallelsitzung des Weltforums für soziale Sicherheit 2022 in Marrakesch, Marokko, mit dem Thema „Personenzentrierte Dienstleistungen im menschlich-digitalen Zeitalter“.

CDG Prévoyance, Marokko

Obwohl die CDG Prévoyance bereits 2003 damit begann, ihre Dienstleistungen zu digitalisieren, waren die Geschäftskanäle mit direktem Kontakt zu den Versicherten weiterhin vorherrschend (CDG Prévoyance, 2020 & 2022). Grund dafür war, dass die Institution ihre Entwicklung zuvor nach dem sogenannten Wasserfallmodell betrieb und stark auf die ermittelten Bedürfnisse setzte, anstatt direkt mit den Nutzern zu interagieren. Die CDG Prévoyance leitete deshalb 2018 einen Paradigmenwechsel hin zu einem nutzerzentrierten Ansatz ein, der schnelle iterative Tests und Feedbackschleifen umfasste (Schaubild 2). Dieser Ansatz wurde durch ein partizipatorisches Projektmanagement nach dem Scrum-Modell und durch Design Thinking ermöglicht, wobei konsequent die Sichtweise der Nutzer auf das Problem eingenommen wurde.

Schaubild 2. Design Thinking und agile Methoden in Aktion bei der CDG Prévoyance

Figure 2. Design thinking and agile methodologies in action at the CDG Prévoyance

Der neue nutzerzentrierte Ansatz umfasste folgende Schritte: (i) Organisation von Design-Thinking-Workshops mit den Nutzern; (ii) Ermittlung der wichtigsten Probleme; (iii) je nach Problem Organisation von Hackathons zur Nutzung der kollektiven Intelligenz innerhalb des Kontaktnetzes der Institution; (iv) Entwurf von Lösungen und Prototypen zu den ermittelten Problemen gemeinsam mit den Nutzern; (v) schnelles Ausarbeiten dieser Lösungen und Verfeinerung der Endprodukte in Workshops mit den Nutzern; (vi) Umsetzung der Lösungen, begleitet von einem Kommunikationsplan. Die CDG Prévoyance organisierte als Vorreiterin im Jahr 2019 den ersten Hackathon einer Institution der sozialen Sicherheit. An diesem Hackathon beteiligte sich eine große Zahl interner Teilnehmer sowie Coaches, Industrieexperten und Vertreter von 15 Start-Ups und verschiedenen Rentner- und Rentenempfängervereinigungen (für reguläre Renten oder für Leibrenten). Ergebnis des Hackathon waren einige innovative Lösungen wie ein Chatbot (ein elektronischer Kommunikationspartner, der die Bearbeitung der Nutzerdateien begleitet), eine Sprachausgabe zur Vermittlung der Anwendungsinhalte für analphabetische oder visuell beeinträchtigte Nutzer sowie ein intelligentes Benachrichtigungssystem.

Allgemeine Anstalt für soziale Sicherheit, Spanien

Die Allgemeine Anstalt für soziale Sicherheit (Tesorería General de la Seguridad Social – TGSS) Spaniens setzte agile Methoden ein, um den Bürgern ein nutzerzentriertes Portal (Arratia García, 2022) zur Verfügung zu stellen, dass unter dem Namen Importass aufgeschaltet wurde (TGSS, 2022). Die Lösung richtete sich an Hausangestellte und Selbstständige und stellte im Vergleich zur herkömmlichen Softwareentwicklung bei der TGSS einen fundamentalen Wandel dar. Im Einklang mit den Grundsätzen der agilen Methoden und des Design Thinking wurde das Portal Importass durch selbst organisierte bereichsübergreifende Teams entwickelt, die einem iterativen Entwicklungszyklus folgten. Die Teams begannen mit minimalen Anforderungen und lieferten früh Lösungen, die in kurzen Zyklen laufend iterativ verbessert wurden. Entscheidend während des Entwicklungsprozesses waren die quantitativen Analysen, die sorgfältige Gestaltung der Dienstleistungen, das Einholen von Nutzererfahrungen, die Prozessanalysen und die laufend angepassten Prozesse. Die Teams analysierten Bestandsdaten, um Nutzerprofile zu bestimmen und die Dienstleistungen entsprechend auszurichten. Durch Gespräche in Fokusgruppen, Befragungen von Angestellten und Bürgern, Job-Shadowing und Card-Sorting konnten die Bedürfnisse der Nutzer genau ermittelt werden. Der Erfolg dieses Ansatzes zeigte sich in der breiten Verwendung des Portals durch die Nutzer.

Allgemeine Anstalt für Sozialversicherung, Saudi-Arabien

Die Allgemeine Anstalt für Sozialversicherung (General Organization for Social Insurance – GOSI) Saudi-Arabiens startete ein agiles Transformationsprogramm, um das Betriebsmodell von einer projektzentrierten auf eine produktzentrierte Dienstleistungserbringung umzustellen (GOSI, 2021). Zuvor waren die Softwareentwicklungsprozesse der GOSI nach dem Modell „Planen, Entwickeln und Betreiben“ strukturiert, und die verschiedenen Teams arbeiteten getrennt in ihren Bereichen, was unterschiedliche Prioritäten, eine langsame Entwicklung und hohe Kosten zur Folge hatte. Mit dem agilen Transformationsprogramm wurde die herkömmliche Arbeitsmethode umgestellt, und fortan konnte bereichsübergreifend im Sinne von Flexibilität, Reaktionsschnelligkeit und ständiger Verbesserung zusammengearbeitet werden. Das Programm wurde 2018 für das Sozialversicherungssystem der GOSI (Ameen) in einem Pilotversuch gestartet, und anschließend beschleunigte die Anstalt die Umstellung auf einen produktzentrierten agilen Ansatz in der gesamten Institution.

Die neuen agilen Methoden erlaubten eine schnellere Dienstleistungserbringung und einen schnelleren Dienstleistungsbetrieb. Für eine effiziente Entwicklung der Produkte wurden in der Institution neue Funktionen, neue Arbeitsweisen, Coaching, ständige Verbesserungen und kollaborative IT-Instrumente eingeführt. Die gewandelte Kultur hielt nicht nur in die IT-Gruppen Einzug, sondern machte auch umfangreiche organisatorische Veränderungen möglich. Dazu gehörten ein Veränderungsmanagement und die Verteilung von Unterlagen, in denen der Wandel genau erklärt wurde, sowie eine neue Form des Personalmanagements mit ständigen Weiterbildungen und Performancebeurteilungen.

Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung, Kanada

Das kanadische Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung (Employment and Social Development Canada – ESDC) betreibt verschiedene Zweige mit spezialisierten Teams in vier Regionen. Diese Struktur erwies sich zwar als günstig für die Dienstleistungserbringung, aber sie ermöglichte keine echte Zusammenarbeit für die Entwicklung nutzerzentrierter Dienstleistungen und Produkte. Dienstleistungsverbesserungen erfolgten daher meist ad hoc, oft ohne die Inputs von Nutzern und Dienstleistern. Das Ministerium startete deshalb 2017 einen immersiven Design-Thinking-Prozess, bei dem Ideen von Mitarbeitenden, Nutzern und Partnern gesammelt und in nutzerzentrierte Lösungen umgewandelt wurden. Dies war Teil einer mehrjährigen Transformationsstrategie für die Dienstleistungen, die unter anderem zur Schaffung eines Acceleration Hub führte, eines permanenten physischen Raums, in dem sowohl persönlich als auch virtuell zusammengearbeitet werden kann, um Dienstleistungsverbesserungen und Lösungen mit agilen und wiederholbaren Designmethoden zu entwerfen (ESDC, 2020).

Durch den Acceleration Hub konnte die Trennung zwischen den Geschäftsbereichen aufgebrochen werden, und es wurden innovative Ideen von Mitarbeitenden, Nutzern und Partnern gesammelt und in nutzerzentrierte Dienstleistungslösungen eingebracht. Bereits nach 16 Wochen konnte das ESDC sein erstes Ergebnis verkünden: einen umfassend abgestimmten Fünfjahresplan für die Dienstleistungstransformation. In derart kurzer Zeit war dies im Ministerium noch nie gelungen. Der Plan wurde von 50 Mitarbeitenden des Ministeriums entwickelt, die gemeinsam Ideen sammelten und schließlich 33 Lösungen präsentierten, die für die Nutzer zu großen Verbesserungen führen sollten. Prototypen des Konzepts wurden gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern im ganzen Land getestet, und Rückmeldungen zu den neuen Ideen wurden eingeholt.

Der Acceleration Hub ist ein Beispiel dafür, wie eine allgemeine Transformationsstrategie für die Dienstleistungen die Organisations- und Führungsstruktur einer Institution verändern und neue Fähigkeiten hervorbringen kann. Die Programme, Abteilungen und Regionen agieren nun nicht mehr getrennt, sondern es findet eine vollständige Integration des Dienstleistungsmanagements statt. 2020 gewann das Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung für diese Neuerung den IVSS-Preis für gute Praxis für Amerika.

Ergebnisse

In Tabelle 1 sind die Ergebnisse zusammengestellt, die diese Institutionen durch Design Thinking und agile Methoden erreicht haben:

Tabelle 1. Ergebnisse durch Design Thinking und agile Methoden
Institution Ergebnisse
CDG Prévoyance, Marokko
  • Zunahme der Nutzung mobiler Kanäle und Online- Kanäle um 70 Prozent.
  • Zunahme der über die Plattform abgegebenen Arbeitgebererklärungen für Lohnabzüge von 2018 bis 2019 fast um einen Faktor 150.
TGSS, Spanien
  • 2,6 Millionen Nutzer, 73 Prozent davon neue Nutzer
  • 54,7 Prozent der Nutzer griffen über ihr Mobiltelefon auf das Portal zu
  • Durchschnittliche Anmeldungszeit von nur 6 Minuten
  • Eingang von 2 Millionen Anträgen mit Arbeitsbiografien
GOSI, Saudi-Arabien
  • Nach der Unterstützung des Produktteams durch ein Supportteam nahm die durchschnittliche Zeit zur Lösung von Problemen mit Produkten von 39 Tagen auf 12 Tage deutlich ab
  • Bessere Planbarkeit und Kohärenz der Ziele der Teams
ESDC, Kanada
  • Rücksprache mit 5 688 Bürgern/ Nutzern aus allen zehn Provinzen und drei Territorien
  • Wichtige nutzerzentrierte Initiativen:
    • automatische Anmeldung für Garantierten Einkommenszuschuss und Altersrentenversicherung
    • Reduktion der Wartezeiten für die Arbeitslosenversicherung von zwei Wochen auf eine
    • Start der ersten mobilen App des ESDC mit integrierter Stellensuche
    • verbesserte Leistungs- und Dienstleistungssuche mit neuen Funktionen und Zugriff auf die Anspruchsvoraussetzungen der Nutzer;
    • Testen neuer Methoden für die Öffentlichkeitsarbeit in Gegenden ohne zuverlässige Mobiltelefon- und Internetverbindung, wodurch sich der Service deutlich verbesserte. Abnahme der Zeit für die Ausgabe einer Sozialversicherungsnummer von 20 auf 7 Minuten

Erfolgsentscheidende Faktoren

Bei der Einführung von Design Thinking und agilen Methoden ist es wichtig, dass die Menschen entsprechend angeleitet und weitergebildet werden. Außerdem gilt es, die Trennung der Organisationsstrukturen zu überwinden und die fehlenden Kompetenzen des Personals auszugleichen. Im Fall der Allgemeinen Anstalt für Sozialversicherung Saudi-Arabiens trug das Coaching entscheidend dazu bei, dass die Widerstände einiger Mitarbeitender gegen kürzere Dienstleistungserbringungszeiten und gegen die bereichsübergreifende Zusammenarbeit überwunden werden konnten. Außerdem führte die Institution Praxisgemeinschaften unter anderem zu Nutzererfahrungen und Scrum-Projektmanagement ein, um gemeinsames Lernen und die gegenseitige Anregung durch Ideen zu fördern. Das kanadische Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung richtete in jeder Landesregion ein Netzwerk mit geschulten Veränderungsbotschaftern ein. Diese Botschafter sind Mitarbeitende, die an einer kollektiven Sitzung des Acceleration Hub teilgenommen haben und die ihren Kollegen danach den Prozess sowie die Ziele der Dienstleistungstransformation erklären können. Sie vertreten eine kollektive Sicht auf die Dienstleistungstransformation und sind verantwortlich dafür, dass in der jeweiligen Abteilung oder Region Ideen vorgestellt und Rückmeldungen der Mitarbeitenden eingeholt werden.

Die Einrichtung von Feedbackschleifen für Mitarbeitende ist entscheidend, wenn es darum geht, agile Arbeitsmethoden einzuführen. Das kanadische Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung betonte, dass nicht nur der gesamte Entwicklungsprozess, sondern auch die interne Arbeitsweise iterativ gestaltet sein müsse. Die Lehren aus der ersten sogenannten Sprint-Sitzung werden stets begutachtet, und mit diesen Ergebnissen wird die Zusammenarbeit für die nächsten Sprints angepasst. Gestalten die Mitarbeitenden ihre Organisationsstrukturen selbst mit, dann werden die neuen Methoden auch besser angenommen.

Wichtig sind auch die Unterstützung und Expertise von außen. Nutzerzentrierte Methoden verlangen eine viel breitere Expertise und ein viel größeres Engagement, so dass auch auf externe Stellen zurückgegriffen werden sollte. So war für die CDG Prévoyance aus Marokko die Einbindung von Rentenvereinigungen und externen Experten von großem Vorteil. Wo es intern an entsprechenden Kompetenzen mangelte, war dies ein kritisches Element, insbesondere im Stadium des Design Thinking und der kollektiven Ideensuche.

Schlussbemerkungen

Die Institutionen der sozialen Sicherheit – und allgemein alle Regierungsstellen – suchen auf der ganzen Welt nach Wegen, wie sie zu agilen und nutzerzentrierten Organisationen werden können. 2023 nutzten schätzungsweise 60 Prozent der öffentlichen Behörden weltweit nutzerzentrierte Methoden für die Gestaltung ihrer digitalen Dienstleistungen (Gartner, 2022). Der Aufbau nutzerzentrierter Organisationen, die das volle Potenzial dieser Methoden ausschöpfen, stellt eine große Herausforderung dar und erfordert langfristige und strategische Investitionen, wie die Erfahrungen der IVSS-Mitglieder zeigen.

Die Einführung nutzerzentrierter und agiler Methoden verlangt insbesondere, dass spezialisierte Kompetenzen und eine disziplinübergreifende Koordination und Zusammenarbeit aufgebaut werden, was bei einer Einführung in großem Maßstab und innerhalb der gesamten Organisation äußerst komplex ist. So zeigte die Überprüfung agiler Praktiken innerhalb der Verwaltung der sozialen Sicherheit (Social Security Administration) der Vereinigten Staaten von Amerika, welche Herausforderungen sich bei der fachgerechten Einführung agiler Entwicklungsmethoden stellen und welche gute Praxis sich für eine iterative Entwicklung neuer Lösungen anbietet (OIG, 2022).

Untersuchungen haben gezeigt, dass die Institutionen vor allem vier große Hindernisse überwinden müssen (Brown, Kaur und Khan, 2020): hierarchische Strukturen, Mangel an Kompetenzen und Fähigkeiten, veraltete Organisationsstrategien und aufwändige Beschaffungs- und Partnerschaftsprozesse. Ein iterativer Ansatz des Testens, Scheiterns und Lernens verlangt von den Institutionen, dass sie selbstständiges Arbeiten und gelegentliches Scheitern zur Normalität machen, anstatt zu strikt auf einer bürokratischen Struktur der Fehlervermeidung zu beharren.

Die internen Fähigkeiten müssen durch agile Fähigkeiten wie nutzerzentrierte Gestaltung, Produktmanagement und Automatisierung ergänzt werden, und gleichzeitig müssen die typischen Rahmenbedingungen des öffentlichen Diensts wie knappe Haushaltsmittel, Lohnobergrenzen und politische Vorgaben bei der Einstellung neuer Fachkräfte bewältigt werden. Anstatt getrennt zu arbeiten, werden sich die Mitarbeitenden bereichsübergreifend zu Teams zusammentun müssen, und dazu braucht es auch eine veränderte Rekrutierungsstrategie und ein neues Performancemanagement. Schließlich lassen sich, wenn die Bedürfnisse der Nutzer im Vordergrund stehen, durch Design Thinking und agile Methoden langfristig große Effizienzgewinne erzielen, da so robuste, inklusive und effiziente Lösungen für die Bürgerinnen und Bürger entstehen.

Mit nutzerzentrierten Ansätzen können jedoch nicht alle Probleme gelöst werden, und die Institutionen der sozialen Sicherheit sollten deshalb proaktiv auf die Erwartungen eingehen und die Vorteile dieser Ansätze breit kommunizieren, damit alle internen Interessengruppen am selben Strang ziehen. Die oben beschriebenen Erfahrungen von IVSS-Mitgliedsinstitutionen bieten eine gute Orientierung für das, was die Institutionen auf ihrem komplexen und dennoch dringend notwendigen Fahrplan zum Aufbau agiler, nutzerzentrierter Organisationen zu leisten imstande sind.

Referenzen

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Allgemeine Finanzbehörde der sozialen Sicherheit. 2022. Importass: das neue Portal der Allgemeinen Finanzbehörde der sozialen Sicherheit. Eine Praxis der Allgemeinen Finanzbehörde der sozialen Sicherheit des Verbands der Verwaltungsträger der sozialen Sicherheit Spaniens (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

Arratia García, A. 2022. Customer-centric mobile apps and agile methodologies (IVSS-Webinar, 14. September). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

Awad, N. et. al. 2022. Delivering government services like a digital native. [S.l.], Boston Consulting Group.

Brown, J.S; Kaur, K; Khan, N. 2020. Implementing agile ways of working in IT to improve citizen experience. [S.l.], McKinsey.

CDG Prévoyance. 2020. Einführung eines kundenzentrierten Ansatzes zur Entwicklung der Online-Dienste (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

CDG Prévoyance. 2022. Design-thinking and agile development method, at the heart of CDG Prévoyance’s Digital Factory. Customer-centric application development – Leveraging design-thinking and agile methodologies (IVSS-Webinar, 14. September). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

Gartner. 2022. How government CIOs can adopt human-centred design into their operating model. [S.l.].

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IVSS. 2021. Veränderungen der Verwaltungspraxis – Amerika. Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

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IVSS. 2022b. Leitlinien der IVSS für die Kontinuität und Widerstandsfähigkeit von Dienstleistungen und Systemen der sozialen Sicherheit. Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

Mailes, G; Carrasco, M.; Arcuri A. 2021. The global trust imperative. [S.l.], Boston Consulting Group & Salesforce.

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