Der wirksame Zugang zu angemessenem Sozialschutz spielt eine zentrale Rolle in der Förderung der nachhaltigen Entwicklung, des sozialen Zusammenhalts und der sozioökonomischen Widerstandsfähigkeit. In Anerkennung dessen haben sich afrikanische Regierungen in den letzten Jahrzehnten erneut dazu verpflichtet, den Geltungsbereich der sozialen Sicherheit zu erweitern und auf die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Kontinents auszudehnen. Die tatsächliche Deckungsrate bleibt jedoch im Allgemeinen nach wie vor niedrig und variiert innerhalb der Länder und zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherungen aufgrund der geringen Erwerbsbeteiligung in der formellen Wirtschaft (IAO, 2017).
Die Länder verpflichteten sich zwar, bestehende Deckungslücken zu schließen, doch die COVID-19- Pandemie sowie die negativen sozioökonomischen Auswirkungen der von nationalen Behörden eingeführten restriktiven Notfallmaßnahmen zur Eindämmung des Virus bergen die Gefahr, dass die Fortschritte in der Verwirklichung eines universellen Sozialschutzes für alle – im Einklang mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – wieder zunichte gemacht werden.
Dennoch hat die Coronapandemie Entwicklungen in Systemen der sozialen Sicherheit vorangetrieben. In jüngster Zeit gab es ein beispielloses politisches Engagement für die Ausweitung des Sozialschutzes in Afrika, das in der Entwicklung einer Reihe von sozialen Richtlinien und Programmen sowie innovativer administrativer und operativer Maßnahmen zur Optimierung der Bereitstellung von Sozialversicherungsleistungen und Minimierung von Unterbrechungen in der Leistungserbringung gipfelte.
Kernaussagen
- Die COVID-19-Pandemie, einschließlich der negativen sozioökonomischen Folgen der eingeführten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, waren ein schwerer Rückschlag für die Sozialversicherungssysteme. Es besteht die Gefahr, dass die Fortschritte in der Verwirklichung eines universellen Sozialschutzes für alle – im Einklang mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – wieder zunichte gemacht werden.
- Die COVID-19-Pandemie löste ein beispielloses Engagement für den Sozialschutz in Afrika aus, was zur Einführung und Ausweitung von Sozialhilfsprogrammen, situationsbezogenen Anpassungen der Sozialversicherungssysteme und zur Annahme neuer Finanzierungsansätze für den Sozialschutz führte.
- Dank laufender Verbesserungen wie der Automatisierung und Digitalisierung der Sozialversicherungsverwaltung waren die IVSS-Mitgliedsorganisationen in Afrika in der Lage, Maßnahmen anzupassen und neue, sich entwickelnde Lösungen umsetzen, um die Kontinuität des Geschäftsbetriebes während der Lockdowns und Fernarbeit zu gewährleisten.
- Die COVID-19-Pandemie und die eingeführten Maßnahmen, um das Virus einzudämmen, haben die Automatisierung und Digitalisierung in der Verwaltung der sozialen Sicherheit beschleunigt und die Risiken von Fehlern, Hinterziehung und Betrug in den Sozialversicherungssystemen erhöht.
- Der allgemeine Kontext der Ungewissheit unterstreicht die Notwendigkeit eines verstärkten Engagements für die soziale Sicherheit, um in Afrika einen umfassenden und universellen Sozialschutz zu erreichen und zu erhalten, mit einem wirksamem Zugang zu bezahlbaren und ausreichend reaktionsfähigen Leistungen und Diensten der Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung.
Zunehmender Bedarf an Sozialschutz und Gesundheitsversorgung und -leistungen
Vor der Pandemie hatten sich die afrikanischen Regierungen erneut dazu verpflichtet, einen Kurs in Richtung eines universellen Sozialschutzes für alle einzuschlagen. Dies zeigt sich in der Einbindung des Sozialschutzes in regionale und nationale Entwicklungsstrategien, in verbesserten Investitionen in beitragsfreie Sozialschutzprogramme und in der Ausweitung der beitragsabhängigen Sozialversicherungssysteme auf typischerweise ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen, wie Selbstständige und informell Beschäftigte. Gleichzeitig streben afrikanische Sozialversicherungssysteme allgemeine Verbesserungen und neue Entwicklungen an, um die Verwaltungskapazitäten der Sozialversicherungsträger zu verbessern und Sozialleistungen rechtzeitig und einheitlich zu verwalten und zu erbringen. Ausschlaggebend dafür waren moderne IKT-Lösungen und strategische Partnerschaften, um das Bewusstsein zu schärfen und die Reichweite zu erhöhen.
Vor diesem Hintergrund hat die COVID-19-Pandemie den Bedarf an Sozialleistungen erhöht und die Angemessenheit, Fähigkeit und Stabilität der Sozialschutz- und Gesundheitssysteme in ihrer Reaktion auf die Pandemie und deren negative sozioökonomische Auswirkungen infrage gestellt.
Interessanterweise verzeichneten Afrika und die afrikanischen Länder in der ersten Welle der Pandemie niedrigere Infektionsraten im Vergleich zu anderen Kontinenten und wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern. Der akute Mangel an wirksamen Zugang zu Sozialschutz stellte die Regierungen jedoch vor größere Aufgaben bei der Bewältigung der sozioökonomischen Herausforderungen, die die Pandemie mit sich brachte. Eine der größten Herausforderungen war die Deckung des angefallenen und wachsenden Bedarfs an Sozialschutz- und Gesundheitsdienstleistungen trotz schrumpfender finanzpolitischer Spielräume aufgrund des weltweiten Wirtschaftsabschwungs und der erhöhten Arbeitsplatzverluste.
Dennoch kann die weltweite Coronapandemie sowohl als Chance als auch als Herausforderung für die soziale Sicherheit in Afrika gesehen werden. Nachteilig ist, dass die COVID-19-Pandemie die bestehenden Belastungen für die Sozialschutzeinrichtungen noch verschärft hat. Auf der anderen Seite verlieh sie den Entwicklungen im Sozialschutz neuen Schwung. In der Praxis zeigte sich beispielloses politisches Engagement für den Sozialschutz, das in der Einführung oder Ausweitung von Sozialhilfsprogrammen sowie in Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die negativen sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie gipfelte. Auf administrativer Ebene schuf die Pandemie eine neue Dynamik in der Sozialschutzverwaltung, die zur Einführung und Anpassung von Online- und Digitallösungen führte, um eine fortwährende Leistungserbringung zu garantieren und gleichzeitig Unterbrechungen in den von Sozialversicherungsträgern angebotenen Sozialschutzleistungen zu minimieren.
Programm- und Strategieüberlegungen zur Optimierung von Leistungen
Sozialschutz und Beschäftigung stehen im Rahmen der Agenden der sozialen Gerechtigkeit und der menschenwürdigen Arbeit nah beieinander und beruhen auf Gegenseitigkeit. Einerseits bietet eine menschenwürdige Beschäftigung die Möglichkeit, neben der Ansammlung von Sozialversicherungsansprüchen, ein Einkommen zu erzielen. Andererseits spielt die soziale Sicherheit eine zentrale Rolle darin, armen Menschen ohne Arbeitseinkommen eine grundlegende Einkommenssicherheit zu bieten und Einkommensverluste zu ersetzen, wenn Eventualitäten auftreten.
Außerdem spielt die soziale Sicherheit eine entscheidende Rolle beim Aufbau widerstandsfähiger, gerechter und stabiler Gesellschaften. Die COVID-19-Pandemie hatte schwere Auswirkungen auf die Arbeitsplätze. Aber der Pandemiekontext hob auch die Relevanz des Sozialschutzes im Leben einer Nation hervor und untermauerte die Widerstandsfähigkeit der Menschen und die Stabilität der Gesellschaft. Die Pandemie veranlasste eine erhöhte Deckung von Risikoereignissen durch Sozialversicherungsprogramme, insbesondere Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfälle und Todesfälle. Dies führte neben der Notwendigkeit, auf die noch nie dagewesenen Gesundheits- und sozioökonomischen Krisen zu reagieren, zu einem erhöhten Bedarf an Sozialversicherungsleistungen.
Als Reaktion auf die unmittelbaren sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie ergriffen die Länder rasche und mitunter radikale Maßnahmen zur Verbesserung und Ausweitung des Angebotes an Sozialschutzleistungen und -dienstleistungen. Diese Maßnahmen reichten von der Einführung neuer oder Ausweitung bestehender Sozialhilfsprogramme über situationsbedingte Anpassungen der beitragsabhängigen Sozialversicherungssysteme bis hin zur Anpassung der Arbeitsmarktpolitik, der Änderung öffentlicher Arbeitsprogramme und der Einführung neuer Finanzierungskonzepte.
Einführung neuer und Ausweitung existierender Sozialhilfeprogramme
Die Systeme der sozialen Sicherheit in fast allen afrikanischen Ländern sind in erster Linie Sozialversicherungsprogramme und umfassen generell Renten- und Arbeitsunfallprogramme. In einigen Ländern gibt es jedoch kategorische Sozialrentenprogramme.
Für viele versicherte Arbeitnehmer führte die Pandemie im Laufe der Zeit zu einer Unterbrechung der Wirtschaftstätigkeit und des Aufbaus von beitragsabhängigen Sozialschutzrechten und verschärfte den Bedarf an Arbeitslosen-, Arbeitsunfall- und Krankheitsleistungen zum Schutz der Bevölkerungsgruppen im erwerbsfähigen Alter – bei hohen Raten informeller Beschäftigung. Paradoxerweise verfügen nur zehn der 54 afrikanischen Länder über Arbeitslosenversicherungssysteme, was 5,6 Prozent der arbeitslosen Bevölkerung am Kontinent abdeckt (Algerien, Ägypten, Cabo Verde, Marokko, Mauritius, Mosambik, Seychellen, Südafrika, Vereinigte Republik Tansania (folgend Tansania) und Tunesien). Darüber hinaus beruht die Krankenversicherung im Allgemeinen auf der Haftung der Arbeitgeber – vor dem Hintergrund eines hohen Anteils an informeller Beschäftigung und selbstständiger Arbeit.
In Anbetracht der weitreichenden negativen Auswirkungen der Pandemie auf Arbeitgeber und Arbeitsplätze sowie der unterentwickelten Arbeitslosenversicherung konnten sich die Regierungen nicht auf die bestehenden Vereinbarungen verlassen, um dem Großteil der Bevölkerung während der COVID-19- und Post-COVID-19-Ära einen Sozialschutz zu bieten. In vielen Fällen wurde darauf mit der Einführung oder Ausweitung von Sozialhilfsprogrammen reagiert. Aus den von internationalen Organisationen, wie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) und der Weltbank, gesammelten Daten geht hervor, dass die Sozialschutzmaßnahmen als Reaktion auf die Coronapandemie überwiegend in Form von Sozialhilfe erfolgten und 86 Prozent der Sozialschutzmaßnahmen in Afrika ausmachten (Gentilini et al., 2020).
Die Verbreitung von Sozialhilfemaßnahmen als Reaktion auf die Pandemie bestätigt die vorherrschenden Deckungslücken in der sozialen Sicherheit in Afrika. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, den Sozialversicherungsschutz in Bezug auf den Umfang – d.h. die Einführung neuer Formen von Leistungen; die Reichweite – d.h. die Einbeziehung neuer Bevölkerungsgruppen und die verbesserte Angemessenheit – d.h. Aufstockung/regelmäßige Neubewertung der Leistungen zu erweitern. Ungeachtet dessen haben einige Länder die erste Welle der Krise reibungslos überstanden, indem sie an beitragsabhängigen Sozialversicherungssystemen situationsbezogene parametrische Reformen durchführten.
Situationsbezogene Anpassungen der Sozialversicherungssysteme
Die Reaktion auf die Krise erforderte eine Kombination von Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen in der öffentlichen Gesundheit und der Gesundheitsversorgung, zum Schutz der Menschen und ihrer Existenzgrundlagen sowie zur Stärkung der Arbeitgeber, um Arbeitsplätze zu sichern und die Wirtschaft aufrecht zu erhalten.
Unter identischen Umständen rechtfertigen unterschiedliche Realitäten unterschiedliche Strategien zur Bewältigung einer gemeinsamen Herausforderung. Jedes Land ergriff Maßnahmen, die die politischen Entscheidungen und die Fähigkeit widerspiegeln, soziale Sicherheit und Gesundheitsschutz für die Bevölkerung zu finanzieren und zu erbringen. Während die große Mehrheit – 86 Prozent – in der Sozialhilfe Zuflucht nahm, wurden nicht zu vernachlässigende 8 Prozent der Sozialschutzmaßnahmen in Form von Sozialversicherungen angeboten, was situationsbezogene Anpassungen an zuvor existierende Systeme mit sich brachte.
In Cabo Verde strich die Regierung zum Beispiel die Beiträge zur Rentenkasse für drei Monate. In Côte d‘Ivoire bot die Regierung Personen, die finanzielle Unterstützung beziehen, in Form von Bargeldtransfers drei Monate lang Krankenversicherungsprämien an. In anderen Ländern – Algerien, Kamerun, Madagaskar, Mosambik, Seychellen und Uganda – wurden die Sozialversicherungsbeiträge für einen durchschnittlichen Zeitraum von drei Monaten zurückgestellt und gleichzeitig alle Strafen und Bußgelder für die verspätete Zahlung von Beiträgen aufgehoben.
Anderorts auf dem Kontinent hat Marokko für Arbeitnehmer, die aufgrund der Pandemie entlassen wurden, den Krankenversicherungsschutz weiterhin aufrecht erhalten, während Ruanda die Wartezeitbedingung für den Krankenversicherungsschutz aufgehoben hat. In Kamerun wertete die Regierung die Leistungen der Familienbeihilfe für einen Zeitraum von drei Monaten um 60,7 Prozent auf und beschleunigte eine 20‑prozentige Aufwertung der vor den parametrischen Reformen im Jahr 2016 gezahlten Renten.
Ägypten, Algerien, Äthiopien, Marokko, Mosambik und Südafrika gewährten Arbeitnehmern, die von der Pandemie und deren Auswirkungen betroffen waren, Krankheitsurlaub und/oder Arbeitslosenunterstützung. Durch die Langwierigkeit der Pandemie werden Sozialschutzsysteme allerdings zunehmend finanziell belastet, was Eingriffe seitens des Arbeitsmarktes erfordert, um den steigenden Bedarf an Sozialschutzleistungen zu verringern, indem Arbeitsplätze gesichert und Beschäftigung gefördert werden.
Arbeitsmarktstrategien und finanzpolitische Maßnahmen
Neben den gesetzten Maßnahmen in der Sozialhilfe und Sozialversicherung zur Bewältigung der sozioökonomischen Herausforderungen der Pandemie hatten die Regierungen die zwingendere Aufgabe, die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern. Aufgrund der unzureichenden Sozialversicherungsabdeckung in der überwiegenden Mehrheit der afrikanischen Länder, wurden Pläne zur Wiederbelebung der Wirtschaft und zum Schutz von Arbeitsplätzen nur im Hinblick auf eine postpandemische Reaktion betrachtet. Dennoch zeigten sich Länder mit gut entwickelten Kranken- und Sozialversicherungssystemen widerstandsfähiger gegen die Pandemie, da sie sich darauf konzentrierten, den Virus durch Lockdowns einzudämmen und die wirtschaftlichen Folgen durch Sozialschutz und Arbeitsmarkteingriffe zu bewältigen.
In Mauritius zum Beispiel war die Reaktion der Regierung auf die Pandemie darauf ausgerichtet, die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken, da das Land über gut entwickelte Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme verfügt. Sie führte eine Reihe von steuerlichen Maßnahmen im Rahmen des Lohnunterstützungsprogramms und des Unterstützungsprogramms für Selbstständige durch, um Arbeitnehmern und Selbstständigen, die während des verhängten Lockdowns und der Quarantäne arbeitslos wurden, finanziell zu unterstützen. Diese Maßnahmen wurden durch die Verabschiedung des COVID-19- (sonstige Bestimmungen) und des Quarantänegesetzes bei Ausbruch der Krise erreicht.
Ähnliche Entwicklungen gab es in Marokko mit der Einführung der neuen Arbeitslosenunterstützung, der Bereitstellung von staatlicher Hilfe für Unternehmen in Schwierigkeiten und Lohnzuschüssen für Beschäftigte in der Tourismusbranche. In Südafrika stellte die Regierung finanzielle Mittel für Einkommenshilfezahlungen für Arbeitnehmer bereit, deren Arbeitgeber ihre Löhne nicht ausbezahlen konnten und erweiterte steuerliche Beschäftigungsanreize für alle Arbeitnehmer mit einem Einkommen unter 6 500 Rand (ZAR) mit einem Zuschuss von 500 ZAR für vier Monate vom 1. April 2020 bis 31. Juli 2020.
Ägypten, Äthiopien, Botsuana, Burundi, Cabo Verde und Dschibuti haben als Reaktion auf die Coronapandemie gleichermaßen Lohnzuschüsse und/oder steuerliche Beschäftigungsanreize als wirtschaftlichen Anreiz und Arbeitsschutzmaßnahme eingeführt. Die Bedeutung wirtschaftlicher Anreize und steuerlicher Maßnahmen, um die Widerstandsfähigkeit zu stärken und/oder die Wirtschaft wieder anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern, kann nicht genug betont werden. Diese Maßnahmen bergen allerdings für die Regierungen das Risiko, in finanzielle Engpässe zu geraten und die Kontrolle über das makroökonomische Umfeld zu verlieren. In dieser Hinsicht ist es von äußerster Bedeutung, neue Ansätze zur Finanzierung des Sozialschutzes gebührend zu berücksichtigen und Schaffung und Schutz von Arbeitsplätzen zu fördern.
Neue Finanzierungsansätze
In der Regel werden Sozialleistungen von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern und nur in geringem Maße von Entwicklungshilfen und/oder Spenden finanziert. Eine kurze Lektüre des COVID-19-Monitors der IVSS, des Weltbankberichtes über die Reaktionen auf COVID-19 im Sozialschutz und der Beschäftigung (Gentlini et al., 2020) sowie des COVID-19- und Arbeitswelt-Monitors der IAO zeigt, dass sich die Länder bei der Finanzierung von Sozialschutzleistungen in Reaktion auf COVID-19 weitgehend auf konventionelle Strategien verlassen haben. Der Ausbruch der Pandemie brachte in Afrika jedoch neue Ansätze für die Finanzierung des Sozialschutzes hervor.
In Gabun kündigte die Regierung zum Beispiel einen Fonds an, um gefährdete Personen in der durch COVID-19 ausgelösten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise zu unterstützen. Der Präsident stellte 2,1 Milliarden CFA-Francs (XAF) – umgerechnet 3,4 Millionen US-Dollar (USD) – zur Verfügung, um für einen Zeitraum von sechs Monaten die Gesundheitskosten für Einzelpersonen und Familien zu decken, die nicht von der Landeskasse für Krankenversicherung und soziale Sicherheit gedeckt wurden. Ein Teil der Mittel in Höhe von 250 Milliarden XAF (410 Millionen USD) wurde zur Finanzierung außerordentlicher sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen verwendet, unter anderem zur finanziellen Unterstützung von Unternehmen, für teilweise Zahlungen von Löhnen, zum Einfrieren der Mieten für die mit dem niedrigsten Einkommen und für den kostenlosen öffentlichen Transport.
In Côte d’Ivoire führte die Regierung im April 2020 einen Solidaritätsfonds ein, um Haushalte und gefährdete Bevölkerungsgruppen, die von den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus betroffen sind, finanziell zu unterstützen. In Ghana kündigte die Anstalt für soziale Sicherheit und Landesversicherung an, 500 000 ghanaische Cedi aus den Reserven der Sozialversicherung als Spende bereitzustellen, um die COVID-19-Hilfsmaßnahmen der Regierung zu unterstützen. Andere Länder setzten auf Beitrags- und Prämienerlasse anstelle von traditionellen Subventionen und/oder Bargeldtransfers an bestimmte Bevölkerungszielgruppen. Diese Maßnahmen trugen dazu bei, das Armutsrisiko und die Anfälligkeit zu verringern und den entsprechenden Bedarf an erhöhten Ausgaben für Sozialschutzleistungen und Gesundheitsdienste zu senken. Sie trugen gleichermaßen dazu bei, die Verbrauchernachfrage während des wirtschaftlichen Abschwungs aufrechtzuerhalten.
Administrative und operative Maẞnahmen zur Minimierung von Unterbrechungen
Mit der zuvor erwähnten Einführung von Maßnahmen in Programmen und Regelungen spielten Einrichtungen der sozialen Sicherheit in Afrika, besonders die IVSS-Mitgliedsorganisationen, eine entscheidende Rolle in der Anwendung von administrativen und operativen Maßnahmen zur Minimierung von Unterbrechungen in der Erbringung von Dienstleistungen während der Lockdowns.
Der technologische Wandel hat die Modernisierung der Einrichtungen der sozialen Sicherheit in Afrika geprägt. Besonders die IVSS-Mitgliedsorganisationen am Kontinent nutzen Technologien, um in der Verwaltung der sozialen Sicherheit die steigenden öffentlichen Erwartungen zu erfüllen, die Wirksamkeit zu erhöhen und die Effizienz zu verbessern.
Der Ausbruch der Coronapandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hatten das Potenzial, die Erbringung von Sozialleistungen zu unterbrechen. Diese Herausforderung wurde allerdings zu einer Gelegenheit, die Modernisierung und Digitalisierung der Verwaltung der sozialen Sicherheit in Afrika durch Prozessautomatisierungen und elektronische Dienste zu beschleunigen, um die Kontinuität des Geschäftsbetriebs zu gewährleisten und den Rückgriff auf digitale Identifikation und Zahlung zur Unterstützung der virtuellen Arbeit und Fernarbeit zu ermöglichen.
Automatisierung und elektronische Dienstleistungen
Vor der COVID-19-Pandemie hatten die IVSS-Mitgliedsorganisationen bereits mit der Automatisierung wichtiger Geschäftsprozesse und der Einführung elektronischer Dienstleistungen begonnen. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus ergriffen wurden, beschleunigten jedoch die Einführung solcher digitalen Lösungen in der Verwaltung der sozialen Sicherheit auf dem gesamten Kontinent. Wie erwähnt, löste der Ausbruch der Pandemie das Eintreten von Eventualitäten und gleichzeitig die Einführung neuer oder die Ausweitung bestehender Sozialhilfsprogramme aus. Dies geht natürlich mit einem erhöhten Arbeitsaufwand einher, um neue Empfänger und Empfängerinnen zu identifizieren und registrieren, Anträge entgegenzunehmen, Fälle zu verwalten und Leistungen aus der Ferne zu erbringen und dies inmitten von Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus verhängt wurden, wie Lockdowns, sozialer Distanzierung und Quarantänen.
In Kenia, zum Beispiel, nutzte die Rentenkasse der Gemeinden fortgeschrittene elektronische Dienste, um von der physischen auf die virtuelle Verwaltung und Fernarbeit umzustellen. Durch die elektronische Dokumentenmanagementlösung, die benutzerdefinierte Rentenverwaltungslösung, die Mitglieder-App des Zentralen Vorsorgefonds (Central Provident Fund – CPF), Biometrie, die CPF-Chatbox, WhatsApp für Unternehmen und das mobile Callcenter konnte das System während der ersten Welle der Pandemie und der Lockdowns eine durchgehende Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten.
In Marokko beschleunigte der Ausbruch der Pandemie die Umsetzung der Digitalisierungsstrategie der marokkanischen Rentenkasse (Caisse marocaine des retraites – CMR). Die für das Jahr 2023 vorgesehenen vier Hauptziele – fortgeschrittene Automatisierung der Geschäftsprozesse, Übergang zu künstlicher Intelligenz, Dematerialisierung von Abläufen sowie physisch-digitale Kundenbeziehungen – wurden durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie begünstigt, indem die Automatisierung und Dematerialisierung von Kerngeschäftsprozessen vorweggenommen wurde. Ähnliche Entwicklungen waren in Ländern, wie Algerien, Côte d’Ivoire, Madagaskar, Mauretanien, Südafrika und Tunesien zu beobachten, wo die Sozialversicherungsträger die digitale Entwicklung als Reaktion auf die Herausforderungen der Coronapandemie beschleunigten.
Dennoch führten Automatisierung und Digitalisierung in den meisten Fällen nicht zu dem für die „neue Normalität“ erforderlichen Wandel von physischer zu virtueller Arbeit.
Digitale Lösungen für die Identifizierung und Zahlung
Abgesehen von der Suche und dem Streben nach Modernität, die durch den technologischen Wandel hervorgerufen werden, erfordern die Pandemie und daraus resultierenden Notwendigkeiten der sozialen Distanzierung, Fernarbeit und Ausgangsbeschränkungen einen Rückgriff auf digitale Lösungen, um für Sozialversicherungsverwaltungen virtuelle Arbeitsräume zu schaffen. Darüber hinaus wird für die Auszahlung von Leistungen, die die Erfüllung bestimmter Bedingungen wie z.B. einen Lebensnachweis erfordern, zunehmend die digitale Identifizierung wie z.B. die biometrische Erkennung eingesetzt.
Die Landeskasse für Sozialversicherung (Caisse nationale de prévoyance sociale – CNPS) von Kamerun und die Landeskasse für soziale Sicherheit (Caisse nationale de sécurité sociale – CNSS) von Guinea haben beispielsweise die biometrische Erkennung für die Identifizierung und den Lebensnachweis der Leistungsempfänger eingesetzt. Die durch COVID-19 auferlegte soziale Distanzierung und Fernarbeit werden allerdings einen Wandel von der biometrischen Erkennung hin zu fortschrittlicheren digitalen Lösungen wie der Gesichtserkennung erfordern. Die marokkanische Branchenübergreifende Rentenkasse (Caisse Interprofessionnelle marocaine de retraites – CIMAR) ist ein Beispiel für die Verwendung von Gesichtserkennung für die Fernidentifizierung und den Lebensnachweis von Rentenempfängern, wodurch das Ansteckungsrisiko, das sonst bei der Nutzung von biometrischen Geräten durch mehrere Kunden gegeben ist, reduziert wird.
Die Web- und Handy-Anwendungen für die Sozialversicherung von Algeriens Landeskasse der sozialen Sicherheit für Selbstständige (Caisse nationale de sécurité sociale des non-salariés – CASNOS) sowie die Online-Beitragszahlungen, Online-Unbedenklichkeitsbescheinigungen und elektronischen Quittungen, die von der Landeskasse für Sozialversicherung (Caisse nationale de prévoyance sociale – CNPS) von Kamerun eingeführt wurden, sind weitere Beispiele für bewährte Verfahren, die auch nach COVID-19 relevant bleiben werden. Ähnliche Entwicklungen wie die Anwendungen „e-Cotisations“ und „e-CM“ der ivorischen Institution für soziale Vorsorge - Landeskasse für Sozialversicherung (Institution de prévoyance sociale - Caisse nationale de prévoyance sociale – IPS-CNPS) werden im post-pandemischen Kontext von Nutzen sein. Die elektronische Renten-Dienstleistung der Rentenkasse der Seychellen und die allgemeine Nutzung des mobilen Bezahlens und elektronischer Bankdienstleistungen bei der Einziehung von Beiträgen und Auszahlung von Leistungen werden ebenfalls von dauerhaft größerer Bedeutung in der Verwaltung von Sozialversicherungssystemen sein.
Trotz der fortgeschrittenen Entwicklungen als Reaktion auf die durch COVID-19 ausgelöste Notlage, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Sozialversicherungseinrichtungen neue Herausforderungen bewältigen werden müssen, insbesondere hinsichtlich der digitalen Kluft und der Risiken von Fehlern, Hinterziehung und Betrug, die mit der beschleunigten Digitalisierung der Sozialversicherungsprozesse einhergehen. Der Erfolg bei der Bewältigung dieser Risiken wird künftig die Perspektiven der Verwaltung in der sozialen Sicherheit bestimmen.
Schlussfolgerungen
Durch die Coronapandemie befindet sich die soziale Sicherheit in Afrika an einem Scheideweg. Einerseits brachte die Pandemie einen erhöhten Bedarf an Sozialschutzleistungen im Kontext schrumpfender öffentlicher Finanzen für den Sozialschutz aufgrund des Wirtschaftsabschwungs mit sich. Andererseits führte sie zu einem beispiellosen politischen Engagement für den Sozialschutz, was in der Einführung oder Ausweitung von Sozialhilfeprogrammen gipfelte und situationsbezogene Anpassungen beitragsabhängiger Sozialversicherungssysteme sowie die Einführung neuer Finanzierungsansätze für den Sozialschutz in Afrika auslöste. Auf der Verwaltungsebene führten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, insbesondere Lockdowns, soziale Distanzierung und Fernarbeit, zur Einführung und Anpassung fortgeschrittener Digital- und Online-Lösungen und zur Anpassung von Arbeitsbestimmungen, um die Kontinuität des Geschäftsbetriebes auch während der Lockdowns zu gewährleisten. Diese Entwicklungen gehen jedoch mit einem höheren Risiko von Fehlern, Hinterziehung und Betrug einher, mit dem die Sozialversicherungsträger konfrontiert werden.
Ungeachtet der Ungewissheit über den weiteren Verlauf der COVID-19-Pandemie und ihrer möglichen negativen sozioökonomischen Folgen kann die Bedeutung der stabilisierenden Rolle der Sozialversicherungssysteme nicht genug betont werden. Die Förderung menschenwürdiger Arbeit und die Bekämpfung der Ausgrenzung vom Sozialschutz sowie die Verbesserung der Wirksamkeit der freiwilligen Versicherung und der Beitragserhebung sind von entscheidender Bedeutung in der Entwicklung angemessener, reaktionsschneller und nachhaltiger Sozialschutz- und Gesundheitssysteme mit einem verbesserten und dauerhaften Zugang zu Leistungen und Diensten.
Bibliografie
Gentilini, U. et al. 2020. Social protection and jobs responses to COVID-19: A real-time review of country measures. Washington, DC, Weltbank.
IAO. 2017. Global Programme: Employment Injury Insurance Protection (GPEIP): Contributing to decent work and the social protection floor guarantee in the workplace. Genf, Internationales Arbeitsamt.