Die Region Europa zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar eine umfassende Deckung durch die soziale Sicherheit erzielt hat, aber dennoch vor der Herausforderung steht, den Zugang zur sozialen Sicherheit zu gewährleisten und die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen zu verhindern. Der vorliegende Artikel fasst die Ergebnisse eines Fachseminars zusammen, das in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Netzwerk der IVSS (ISSA European Network – IEN) organisiert wurde.
Im Rahmen des IEN-Fachseminars „Soziale Sicherheit und Menschenrechte – Sicherstellung des Zugangs zu Sozialleistungen und Maßnahmen gegen ihre Nicht-Inanspruchnahme“ wurden Hindernisse für den Zugang zur sozialen Sicherheit untersucht und bewährte Verfahren im Umgang mit der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen erörtert. Vor dem Hintergrund der sozialen Sicherheit als Menschenrecht standen Innovationen von Institutionen der sozialen Sicherheit und internationalen Organisationen in folgenden Bereichen im Mittelpunkt der Gespräche: Umgestaltung und Automatisierung von Prozessen, kundenorientierte Leistungserbringung und digitale Inklusion sowie Kommunikation und Sensibilisierung mit Einblicken in die Leistungserbringung für Bevölkerungsgruppen mit besonderen Bedürfnissen.
Menschenrechte, soziale Rechte und soziale Sicherheit
Ausgangspunkt des Seminars waren die internationalen Rahmenwerke für Menschenrechte, die das Recht auf soziale Sicherheit festschreiben, insbesondere die Internationale Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und das Übereinkommen Nr. 102 der IAO (Internationale Arbeitsorganisation) über soziale Sicherheit (UN, 1948 und 1966; IAO, 1952; Stern Plaza, 2023). Im Rahmen des Rechts auf soziale Sicherheit sind die Staaten verpflichtet, Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Angemessenheit, Annehmbarkeit und Qualität der Leistungen zu gewährleisten. Zu den Herausforderungen, die sich aus der Diskrepanz zwischen Norm und Praxis ergeben, gehören unter anderem die unzureichende Bereitstellung nachhaltiger öffentlicher Mittel, die unzureichende Verfügbarkeit und Zugänglichkeit, die zu stark fragmentierten Systeme, die unzureichende Höhe der Leistungen, die fehlende Regulierung, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie die digitale Ausgrenzung (Kim, 2023; Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, 2022).
Seit 2017 bzw. 2019 dienen die Europäische Säule sozialer Rechte und die Empfehlung des Rates der Europäischen Union (EU) über den Zugang zum Sozialschutz als Richtschnur für die Ausweitung der sozialen Sicherheit in dieser Region, wobei vier Dimensionen berücksichtigt werden: formale Deckung, effektive Deckung, Angemessenheit und Transparenz (Europäische Kommission, 2017; Rat der Europäischen Union, 2019). Trotz erheblicher Bemühungen in den 27 EU‑Mitgliedstaaten haben jedoch insbesondere Selbstständige noch immer keinen ausreichenden Zugang zum Sozialschutz. Daher rät die neue Empfehlung des Rates der EU über den Zugang zum Mindesteinkommen, die 2023 angenommen wurde, den Mitgliedstaaten, den Zugang durch die Vereinfachung und Digitalisierung der Antragstellung zu erleichtern, den Zugang zu Informationen über die Rechte zu gewährleisten, Menschen mit unzureichenden Mitteln anzusprechen, Stigmatisierung aktiv zu bekämpfen und die Inanspruchnahme von Leistungen regelmäßig zu beurteilen (Europäische Kommission, 2023; Aujean, 2023).
Menschenrechte verwirklichen – Maßnahmen gegen die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen
Die Nicht-Inanspruchnahme stellt insbesondere bei Mindesteinkommensleistungen eine Herausforderung dar. Der Anteil der Nicht-Inanspruchnahme der Mindesteinkommensleistung liegt in Europa zwischen 29 und 57 Prozent. In Frankreich beispielsweise wird das aktive Solidaritätseinkommen (Revenu de solidarité active – RSA) von einem Drittel der Berechtigten nicht in Anspruch genommen, und 20 Prozent der Haushalte nehmen es dauerhaft nicht in Anspruch (Rode, 2023). Wie aus dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters für extreme Armut und Menschenrechte über die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialschutzrechten hervorgeht, ist das größte Hindernis für die Inanspruchnahme von Leistungen in Europa das Antragsverfahren, gefolgt von einem Mangel an Informationen zum Antragsverfahren und zu den Leistungen an sich (Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, 2022). Aus dem Bericht geht hervor, dass mangelnde digitale Fähigkeiten ein Grund für die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen in der Region sind. In Griechenland haben 46,9 Prozent der älteren Erwachsenen keine Erfahrung im Umgang mit einem Computer. In Frankreich gaben 53,8 Prozent der Befragten an, dass sie Schwierigkeiten hatten, Verwaltungsvorgänge online zu erledigen. Im Vereinigten Königreich wurden im Jahr 2010 sechs verschiedene Programme durch ein einziges, den Universal Credit, ersetzt, wodurch zunächst das Antragsverfahren sowohl für die Antragsteller als auch für die Verwaltung vereinfacht wurde. Die „standardmäßig digitale Funktionsweise“ (digital by default) des Systems erwies sich jedoch als großes Hindernis für die Inanspruchnahme von Leistungen: 25 Prozent der Menschen waren nicht in der Lage, einen Antrag online zu stellen, weil sie Schwierigkeiten hatten, einen Computer zu bedienen oder Zugang zu diesem zu erhalten. Der Bericht enthält daher folgende Empfehlungen: Informationen zugänglich machen, Antragsverfahren vereinfachen und dabei den physischen Zugang zu den Anträgen aufrechterhalten und die in Armut lebenden Menschen in die Ausgestaltung der Dienstleistungen einbeziehen (Sonderberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten, 2022; De Schutter, 2023).
Trotz der bestehenden Herausforderungen zeigen die Erfahrungen der Länder, dass die Inanspruchnahme von Leistungen durch die Umgestaltung und Automatisierung von Prozessen und die kundenorientierte Gestaltung von Dienstleistungen verbessert werden kann.
Umgestaltung und Automatisierung von Prozessen
Als die Beantragung der Beschäftigungszulagen (In-Work Benefit) in Malta automatisiert wurde, indem die Arbeitseinkommen aus den Einkommenssteuererklärungen herangezogen und mit den Haushaltsdaten verknüpft wurden, vervierfachte sich die Inanspruchnahme der Leistung nahezu von 6 000 auf 23 000 Leistungsempfänger. Da keine Einzelanträge mehr gestellt werden mussten, ermöglichte die Automatisierung der Leistung eine effiziente Leistungserbringung für zuvor nicht abgedeckte, anspruchsberechtigte Haushalte (Musù, 2023).
Auch die Landeskasse für Familienzulagen (Caisse Nationale des Allocations Familiales – CNAF) in Frankreich ist dabei, die Leistungserbringung zu automatisieren. Mit einem nationalen Fonds, 101 lokalen Agenturen, 12 Familienleistungen, drei Wohngeldleistungen und vier Leistungen für die soziale Inklusion wirkt die Automatisierung der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen entgegen und verringert die Arbeitsbelastung der Institutionen durch die Vereinfachung der Antragstellung. Konkret bedeutet dies, dass die Bedürftigkeitsprüfung zur Beurteilung des Leistungsanspruchs durch die Berücksichtigung von Daten und durch das Vorausfüllen der Bedürftigkeitserklärungen harmonisiert wird. Das Projekt, das derzeit für Wohngeldleistungen läuft, zielt darauf ab, die „Solidarität an der Quelle“ (solidarité à la source) auf andere Leistungen auszuweiten und mit seinem umfassenden Ansatz zu einem Vereinfachungsmechanismus sowohl für die Leistungsempfänger als auch für die Institutionen der sozialen Sicherheit zu werden (Corbobesse, 2023).
Ein wichtiger Gesichtspunkt, der sich während der Veranstaltung herauskristallisierte, war die Abhängigkeit technologischer und verwaltungstechnischer Lösungen von den institutionellen und umgebungsbedingten Zwängen – ob rechtlicher, kultureller oder anderer Art –, mit denen die Organisation, die die Maßnahmen der sozialen Sicherheit umsetzt, konfrontiert ist. So können beispielsweise rechtliche oder institutionelle Einschränkungen die Gewährung einer Leistung ohne vorherigen Antrag beeinträchtigen. Diese Einschränkungen verdeutlichen einerseits die Grenzen bei der Übertragbarkeit von Beispielen guter Praxis von einer Institution auf eine andere und zeigen andererseits, dass institutionelle und rechtliche Veränderungen durch gute Praxis Fortschritte bei der Umsetzung von Maßnahmen der sozialen Sicherheit ermöglichen können.
Kundenorientierte Dienste und digitale Inklusion
Durch die systematische Einbeziehung der Nutzer in die Erarbeitung von Lösungen gestaltet das Ministerium für Sozialschutz (Department of Social Protection – DSP) in Irland seine Dienstleistungen kundenorientiert. Untersuchungen und Tests mit Kunden liefern wertvolle Informationen über das Nutzererlebnis und können aufzeigen, ob die Terminologie und die Funktionen den Anforderungen an die Zugänglichkeit gerecht werden oder eine Herausforderung für die Nutzer darstellen. Durch diese systematische Einbeziehung der Kunden in die Gestaltung und Erprobung der Dienste zielt das DSP nicht nur darauf ab, die kundenseitigen und betrieblichen Anforderungen in Einklang zu bringen, sondern auch darauf, die Nutzung seiner Dienste zu vereinfachen. Dadurch wird letztlich die Inanspruchnahme von Online-Diensten gefördert, da die DSP-Mitarbeiter einen Raum schaffen, in dem sie Kunden unterstützen können, die Probleme mit der Online-Zugänglichkeit haben (Fitzpatrick, 2023).
Es muss darauf hingewiesen werden, dass kundenorientierte digitale Lösungen zwar einen verbesserten Zugang zu digitalen Kanälen ermöglichen, ihre Umsetzung jedoch zeitlich und finanziell aufwendiger sein kann als eine einheitliche Lösung für alle Kunden. Darüber hinaus kann eine erfolgreiche Digitalisierung auch Investitionen in die Entwicklung von Kundenkompetenzen erfordern. Die Bekämpfung der digitalen Ausgrenzung geht über die Bereitstellung von Sozialleistungen hinaus und umfasst die Entwicklung digitaler Kompetenzen am Arbeitsplatz oder Schulungen für Arbeitslose, die Verwendung einer leicht verständlichen Sprache und die Unterstützung durch Familie und Verwandte. Um sicherzustellen, dass die soziale Sicherheit auch die sozial Schwächsten erreicht, müssen die Institutionen aktiv auf die Menschen zugehen und Schulungen zur Entwicklung digitaler Fähigkeiten anbieten. In Norwegen beispielsweise besitzen zehn Prozent der Einwohner keine digitalen Kompetenzen. Als strategische Reaktion führte die Norwegische Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsbehörde (NAV) Schulungen für digital versierte „Super-Supporter“ durch, die dann die Aufgabe hatten, gefährdete Gruppen zu erreichen (Hansen, 2023).
Die Umsetzung des digitalen Wandels kann sich als schwierig erweisen, wenn man mit komplexen Vorschriften und fragmentierten institutionellen Arbeitsmodellen konfrontiert ist. Da das luxemburgische Ministerium für soziale Sicherheit erkannt hat, dass die Anspruchsberechtigten mehr Wert auf eine benutzerfreundliche digitale Lösung legen als auf die Institution, die sie umsetzt, hat es damit begonnen, Sozialleistungen über zusätzliche digitale Dienste anzubieten, wobei es jede unabhängige Instanz oder institutionelle Schnittstelle aufrechterhält. Mehr als 80 Dienste wurden digitalisiert. Eine Erkenntnis war, dass Rechtsexperten und ihre Kollegen aus dem Bereich der Digitalisierung zusammengebracht werden sollten, damit sie gemeinsam die Gesetzgebung gestalten und den digitalen Wandel beschleunigen können (Hostert, 2023).
Da es in Finnland nur wenige eigene empirische Untersuchungen zur Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen gibt, hat die Sozialversicherungsanstalt (Kela) Mikrosimulationsmethoden eingesetzt, um die Zahl der anspruchsberechtigten Haushalte mit der Zahl der Haushalte abzugleichen, die Leistungen beantragt haben. Auch wenn die Quote der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen in Finnland niedrig ist, stellt der Zugang zur Inanspruchnahme von Leistungen für einen Teil der finnischen Bevölkerung immer noch eine Herausforderung dar. Klassische Lösungsansätze bestehen darin, den Zugang zu Informationen zu erleichtern, indem die Verwendung komplexer Terminologie vermieden wird und Informationen durch Orientierungshilfen, Beratung und einen bereichsübergreifenden Ansatz leicht zugänglich gemacht werden. Auf institutioneller Ebene ist Kela bestrebt, proaktiv zu handeln, indem sie Data Mining in ihren Datenbanken anwendet, um Zielgruppen zu identifizieren. In einem Vorschlag für eine Gesetzesreform schlägt Kela als Instrument zur Vermeidung der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen vor, dass die Bürger die Möglichkeit haben sollten, ihr Interesse an einer angebotenen Leistung in einem Online-Portal zu bekunden. Nach der Bewilligung ihres Antrags könnte die Leistung dann in Anspruch genommen werden (Turunen, 2023).
Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Weltweit spielen Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit eine Schlüsselrolle bei der Förderung des Zugangs zu den Dienstleistungen der sozialen Sicherheit, wie es auch in Litauen der Fall war. Seit Juli 2021 haben Altersrentenempfänger und Menschen mit Behinderungen in Litauen Anspruch auf die „Leistung für Alleinstehende“. Über die Hälfte der ursprünglich 60 000 Anspruchsberechtigten haben keinen Antrag gestellt, weil sie nicht wussten, dass es diese Leistung gibt und dass sie Anspruch darauf haben, weil sie mit der Antragstellung überfordert oder nicht in der Lage waren, die Online-Dienste zu nutzen. Nach der Einleitung einer Informationskampagne erhielt der Staatliche Sozialversicherungsfonds (SoDra) eine Flut von Anfragen von Personen, die nicht anspruchsberechtigt waren, erreichte aber immer noch nicht die Personen, für die die Leistung vorgesehen war. SoDra hat daher eine neue Software entwickelt, die Daten zum Familienstand aus dem Einwohnermelderegister sammelt, um die Anspruchsberechtigten zu identifizieren, und hat die Auszahlung automatisiert. Inzwischen beziehen 230 000 Alleinstehende diese Leistung (Zitikytė, 2023).
Das Generaldirektorat für soziale Sicherheit (Direção-Geral da Segurança Social) und das Institut für soziale Sicherheit (Instituto da Segurança Social) in Portugal haben erkannt, dass es für öffentliche Institutionen eine Herausforderung darstellt, die Bedürfnisse der Menschen zu ermitteln, insbesondere weil die Menschen erwarten, dass die öffentlichen Dienste ihre Präferenzen berücksichtigen. Ein Bestandteil des Aufbau- und Resilienzplans der EU für Portugal ist eine Investition in Höhe von 200 Millionen Euro in die digitale Transformation der sozialen Sicherheit (Projekt „Clic“). Mit dem Plan werden drei Ziele verfolgt. Erstens: eine größere Nähe zu den Nutzern durch die Automatisierung von Sozialleistungen, personalisierte Unterstützung und die Vereinfachung von Beitragszahlungen. Zweitens: Innovation und Digitalisierung von Prozessen durch modernisierte Online-Plattformdienste, Interoperabilität zwischen Verwaltungen und Unternehmen sowie eine intelligente und integrative Beziehung zwischen den Institutionen der sozialen Sicherheit und der Öffentlichkeit. Und drittens: die Steigerung der Effizienz und der Resilienz durch eine Verbesserung der Infrastruktur und eine intelligente Betrugsprävention. Dieses ehrgeizige Projekt beinhaltet auch einen Plan für die interne und externe Kommunikation, um eine optimale Weitergabe der Informationen innerhalb der betroffenen Institutionen der sozialen Sicherheit und in der Bevölkerung zu gewährleisten (Salgado und Matos, 2023).
Die Digitalisierung kann zwar den Zugang zu Dienstleistungen der sozialen Sicherheit erschweren, aber die Inanspruchnahme von Leistungen durch Prozessautomatisierung rationalisieren. Sie kann einen auf rechtsbasierenden Ansatz für die soziale Sicherheit fördern, der durch die Modernisierung der Dienstleistungen zur Deckung eines größeren Bedarfs ermöglicht wird. Die Automatisierung kann nicht nur die Interaktion zwischen den Institutionen vereinfachen, sondern auch die Beziehung zwischen Nutzern und Institutionen neugestalten, indem sie das Informationsbewusstsein und die Autonomie steigert. Gleichzeitig müssen die persönlichen Dienste auch schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen erreichen. In dem Bemühen, den Bürgern ihr Recht auf die Inanspruchnahme von Leistungen der sozialen Sicherheit zu vermitteln, führen die Institutionen der sozialen Sicherheit über Partnerschaften mit den Kommunen, den Medien und den sozialen Medien, durch die direkte Ansprache der Bürger und bei Zusammenkünften mit Interessenvertretern Kommunikations- und Aufklärungskampagnen durch.
Erbringung von Dienstleistungen für Bevölkerungsgruppen mit besonderen Bedürfnissen
Nach wie vor bestehen Lücken im Sozialschutz. Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development – OECD) deuten darauf hin, dass Lücken bei der Einkommensunterstützung beispielsweise dadurch entstehen, dass die Unterstützungsleistungen von mehreren Programmen, gesetzlichen Vorschriften und deren Umsetzung sowie von der Zusammensetzung oder Größe der vorgesehenen Zielgruppe abhängen (Immervoll, 2023).
Um auch Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, rief das luxemburgische Ministerium für soziale Sicherheit im April 2022 das Pilotprojekt „Universelle Absicherung im Krankheitsfall“ (Couverture Universelle des Soins de Santé – CUSS) ins Leben. In Anerkennung des Rechts auf Gesundheitsversorgung für alle Menschen – statt eines Basissystems für diejenigen, die keinen Versicherungsschutz haben und eines umfassenderen Systems für Versicherte – wurde die Zielgruppe festgelegt: Sie umfasst einkommensschwache Bürger, die keinen Anspruch auf andere Arten staatlicher Unterstützung haben. Um die Zielbevölkerung zu erreichen, arbeitete das Ministerium mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, die im Rahmen einer Vereinbarung mit dem Gesundheitsministerium vor Ort tätig sind. Sobald der Antrag auf Aufnahme in die CUSS von der Organisation gestellt wurde, wird er vom Gesundheitsministerium und dem Gemeinsamen Zentrum für soziale Sicherheit (Centre Commun de la Sécurité Sociale – CCSS) geprüft. Bislang haben 190 Personen das CUSS-Programm in Anspruch genommen. Der Plan für die Ausweitung des Projekts umfasst eine gezielte Aufklärungs- und Informationskampagne, eine gesetzliche Grundlage für das Recht auf Zugang zur universellen Gesundheitsversorgung sowie die Digitalisierung von Zahlungen (Fernandes, 2023).
Auf der Grundlage von EUROMOD, einem von der Europäischen Kommission finanzierten Mikrosimulationsmodell für Steuerverbindlichkeiten und Geldleistungen (Europäische Kommission 2019-2023), hat der Föderale Dienst soziale Sicherheit (Service public fédéral Sécurité sociale) in Belgien ein eigenes Modell namens BELMOD entwickelt, das die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialversicherungsansprüchen verringern soll. Es kann potenzielle Leistungsempfänger ermitteln, die Leistungen, auf die eine Person oder eine Familie Anspruch hat, und die jeweilige Höhe des Anspruchs überprüfen. Darüber hinaus kann das Modell simulieren, wie sich eine Änderung der Leistungsberechnung auf Leistungsempfänger mit unterschiedlichen oder besonderen Bedürfnissen auswirken würde, z. B. wenn jemand nach einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit wieder in Teilzeit arbeitet. BELMOD erleichtert die Automatisierung von Ansprüchen im Bereich der sozialen Sicherheit und ermöglicht so die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bevölkerungsgruppen mit besonderen Bedürfnissen (Samyn, 2023).
In Aserbaidschan hat der Staatliche Sozialschutzfonds beim Ministerium für Arbeit und Sozialschutz der Bevölkerung der Republik Aserbaidschan eine auf künstlicher Intelligenz basierende Web-Anwendung eingesetzt, um Unparteilichkeit und Effizienz bei der Prüfung der Haushaltsverhältnisse zu gewährleisten. Die Anwendung ermöglichte ein systematisches Datenmanagement und die Beseitigung von Redundanzen. Mit einem vereinfachten Prüfverfahren hat der Übergang von der Entscheidungsfindung durch Menschen zu einem digitalen Ansatz sowohl den Zugang zu Dienstleistungen als auch die Transparenz verbessert. Schließlich erhielten 10 520 Personen, denen die Leistung im Jahr 2021 verweigert wurde, im Jahr 2022 die gezielte staatliche Sozialhilfe (Targeted State Social Assistance – TSSA), und die zuvor falsch berechneten Beträge wurden an einkommensschwache Familien zurückgezahlt. Die Zahl der schriftlich eingereichten Beschwerden ging um 35 Prozent zurück, die Kundenzufriedenheit stieg um 22 Prozent im Vergleich zu 2021 (96,5 Prozent im Jahr 2022), und die Arbeitsbelastung der Zentralstelle des Fonds für die Prüfung der Haushaltsverhältnisse (Fund’s Central Branch for Examination of Household Conditions) sank um 21 Prozent (Khanalibayli, 2023).
Schlussbemerkungen
Das IEN-Fachseminar „Soziale Sicherheit und Menschenrechte – Sicherstellung des Zugangs zu Sozialleistungen und Maßnahmen gegen ihre Nicht-Inanspruchnahme“ diente der Förderung einer integrativeren und gerechteren Gesellschaft, in der jeder Einzelne seine sozialen Rechte wahrnehmen und von einem angemessenen Sozialschutz profitieren kann.
Auf der Grundlage internationaler Rahmenwerke für Menschenrechte kann die Verhinderung der Nicht-Inanspruchnahme von Rechten der sozialen Sicherheit in der Praxis erheblich von der Automatisierung profitieren, um eine größere Anzahl von Leistungsempfängern zu erreichen, sowie von kundenorientierten Dienstleistungen (IVSS, 2023), von der Förderung der digitalen Inklusion (IVSS, 2022; IVSS und UNU-EGOV, 2022) und von einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit, um den Anspruch auf soziale Sicherheit zu vermitteln. Gleichzeitig können nationale Rechtsvorschriften, Aufklärungskampagnen und persönliche Dienstleistungen dazu beitragen, dass die Systeme der sozialen Sicherheit niemanden zurücklassen. Darüber hinaus muss auch bedacht werden, dass Projekte im Bereich der Prozessautomatisierung und der Digitalisierung von Kundendienstleistungen mögliche institutionelle und umweltbedingte Einschränkungen berücksichtigen sollten, die die Umsetzung von Lösungen behindern könnten.
Referenzen
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