Die Region Europa zeichnet sich durch die Unterschiedlichkeit ihrer nationalen Systeme der sozialen Sicherheit sowie durch den Umfang und die Breite der angebotenen Deckung aus.
Unabhängig davon stehen alle Systeme der sozialen Sicherheit der Region vor Herausforderungen im Zusammenhang mit der Bevölkerungsalterung. Die Länder innerhalb der Region befinden sich in unterschiedlichen Phasen des demografischen Übergangs. Einige sind bereits in einem sehr fortgeschrittenen Stadium, darunter Deutschland, Italien, Spanien, Ungarn und Tschechien. Die Bevölkerungsprofile dieser Länder gehören zu den ältesten weltweit. Andere Länder wie Frankreich und Irland sowie bestimmte Teile der Russischen Föderation weisen hingegen relativ junge Bevölkerungsprofile auf. Will man auf den Prozess der Bevölkerungsalterung und auf den veränderten Bedarf der Bevölkerungen reagieren, dann müssen die bestehenden Gesundheitsund Altersrentensysteme angepasst werden.
Was die Einkommenssicherheit im Alter betrifft, so betreiben die meisten Länder der Region soziale Altersrentenversicherungssysteme und bieten zusätzlich steuerfinanzierte Leistungen an, wobei verpflichtende und freiwillige private Rentenansparungen in den einzelnen Ländern von unterschiedlicher Bedeutung sind. Alle Länder werden mittel- und langfristig eine Erhöhung ihrer Ausgaben veranlassen, um angemessen auf die Bevölkerungsalterung zu reagieren. Obwohl die Bevölkerungsalterung ein globales Phänomen ist, zeichnet sich in der Region Europa ein besonderes Bild. In den meisten Ländern ist die Bevölkerungsalterung bereits seit Langem ein Trend und sehr weit fortgeschritten. In anderen Ländern ist sie erst jüngeren Datums, sie könnte jedoch schneller voranschreiten. Unabhängig von den nationalen Systemen müssen die staatlichen Reaktionen darauf abzielen, die bestehenden Systeme für Einkommenssicherheit im Alter und für die Deckung von Gesundheitsrisiken zu reformieren und neue politische Maßnahmen zur Erfüllung der Bedürfnisse älterer Menschen zu entwickeln. Angesichts dieser Herausforderungen verfolgen die IVSS-Mitgliedsinstitutionen innovative Strategien zur Reaktion auf die Bevölkerungsalterung, darunter spezifische Maßnahmen zur Einführung professioneller Unterstützungsdienstleistungen für Menschen, die Teile ihrer Selbstständigkeit verloren haben, und zur Bereitstellung von Angeboten für die ältesten und anfälligsten Bevölkerungsteile.
Kernaussagen
- Die Region Europa zeichnet sich durch die Unterschiedlichkeit und Vielfalt ihrer institutionellen Systeme sowie durch Bevölkerungsprofile aus, die trotz ihrer unterschiedlichen Ausprägung alle dem Trend hin zu einer Bevölkerungsalterung folgen.
- Am weitesten fortgeschritten ist die Bevölkerungsalterung in den reicheren Volkswirtschaften der Region, aber sie schreitet in allen Teilen Europas voran. Die Geschwindigkeit der Bevölkerungsalterung ist in den weniger entwickelten Volkswirtschaften der Region meist höher, und dort sind die Haushaltsressourcen zur Bewältigung dieser strategischen Herausforderungen oft beschränkt.
- Die kontinuierlichen Anstrengungen zur Sicherung der finanziellen Tragfähigkeit der Rentensysteme angesichts der Bevölkerungsalterung haben dazu geführt, dass die Renten in den meisten Ländern weniger großzügig gestaltet und die entsprechenden Rechte gleichzeitig eingeschränkt wurden. Das tatsächliche Renteneintrittsalter ist verglichen mit den 1990er-Jahren um durchschnittlich zwei Jahre gestiegen, und laut Prognosen wird bis 2070 eine weitere Anhebung um vier Jahre nötig sein. Die durch die Reformen reduzierten Rechte und angehobenen Beiträge könnten zu einer stärkeren Ungleichheit bei den Ruhestandseinkommen älterer Menschen führen.
- Trotz der gestiegenen Erwerbsquote wird die Erwerbsbevölkerung der Region schrumpfen, vor allem, falls die Nettomigrationsrate abnehmen sollte. Auch die Gesamtbevölkerung wird schrumpfen, insbesondere nach 2035, wohingegen die Zahl der Menschen über 65 Jahre sowie über 80 Jahre deutlich zunehmen wird. Diese Faktoren werden dazu beitragen, dass die Einnahmen der Systeme zurückgehen und die Ausgaben, insbesondere für die Gesundheitsversorgung, steigen werden.
- Aufgrund dieser Bevölkerungsalterung müssen formalisierte Langzeitpflegedienstleistungen und begleitende Dienstleistungen entwickelt werden. Die Professionalisierung dieser Dienstleistungen ist ein entscheidender Faktor.
- Um auf die Bevölkerungsalterung zu reagieren, haben die IVSSMitgliedsinstitutionen der Region i) Strategien zur Formalisierung der Pflege entwickelt und ausgebaut, um die Realisierbarkeit der erforderlichen Dienstleistungen und die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen zu gewährleisten; ii) Lösungen umgesetzt, um die Bedürfnisse älterer Menschen zu erfüllen; und iii) die Resilienz der erbrachten Dienstleistungen erhöht, zuletzt im Kontext der Pandemie, oft auch durch den Einsatz neuer Technologien.
Fakten und Trends




Merkmale der Bevölkerungsalterung
Der Internationale Aktionsplan von Madrid über Alterung (Madrid International Plan of Action on Ageing), der an der Zweiten UNWeltkonferenz zu Fragen des Alterns im April 2002 verabschiedet wurde, erkannte die Bevölkerungsalterung als global auftretendes Phänomen an. Diese strategische Herausforderung hat auch Auswirkungen auf das Erreichen der Ziele nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen, mit denen eine inklusive Gesellschaft für alle Altersgruppen erreicht werden soll. Alle Länder berichten jährlich über ihre Fortschritte beim Erreichen der Ziele nachhaltiger Entwicklung wie Verringerung von Armut und Ungleichheit und Verbesserung des Gesundheitsschutzes (UN, 2020). Auf der Weltgesundheitsversammlung im Mai 2016 erklärten 194 Länder, darunter fast alle Staaten Europas, dass es ohne ein nationales Langzeitpflegesystem nicht gehe. Auf subregionaler Ebene verfolgt die Europäische Union die Bevölkerungsalterung in ihren Mitgliedstaaten und überwacht entsprechende Haushaltsabweichungen (Europäische Kommission, 2020).
Global gesehen ist in den industrialisierten Ländern derzeit eine fortgeschrittenere Bevölkerungsalterung zu beobachten. In der Region Europa zeigt sich dies am deutlichsten in Ländern Süd-, Mittel- und Osteuropas. Ein angemessenes Niveau wirtschaftlicher und institutioneller Entwicklung ist eine wichtige Voraussetzung für eine wirksame Inangriffnahme dieses Phänomens. 2050 wird Europa weltweit die Region mit dem höchsten Anteil älterer Menschen sein. Gegenwärtig sind 20 Prozent der Bevölkerung in der Region über 65 Jahre alt. Dieser Anteil wird Prognosen zufolge bis 2070 auf 30 Prozent steigen. Gleichzeitig geht man davon aus, dass sich der Anteil der Menschen über 80 Jahre mehr als verdoppeln und bis 2070 ganze 13 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen wird.
Die Bevölkerungsalterung wird auch Folgen für die Krankheitsprofile haben: Infektionskrankheiten verzeichnen einen Rückgang, aber nichtansteckende Langzeiterkrankungen wie Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Atemwegerkrankungen, Hyperglykämie, hoher Cholesterinspiegel und Krebs nehmen zu. Die Zunahme chronischer Erkrankungen führt zu einer stärkeren Anfälligkeit für Epidemien wie für die aktuelle COVID‑19‑Pandemie, die vor allem für Menschen über 65 Jahre gefährlich ist.
Auf lange Sicht dürfte die Bevölkerung der Region, wenn die demografische Erneuerung nicht mehr gewährleistet ist, um 5 Prozent schrumpfen, und gleichzeitig wird der Anteil von Menschen über 65 Jahren steigen. Dadurch könnte der Abhängigkeitsquotient (Anzahl abhängiger Personen bezogen auf Personen im arbeitsfähigen Alter) von 35 Prozent auf 60 Prozent steigen. Diese Durchschnittswerte verbergen jedoch beträchtliche Schwankungen innerhalb Europas – 2070 könnte dieser Quotient zwischen unter 30 Prozent in bestimmten russischen Provinzen und fast 90 Prozent in Polen liegen. Dennoch wird deutlich, wie verbreitet das Phänomen ist (Gietel-Basten et al., 2017). Die Erwerbsbevölkerung wird daher Prognosen zufolge bis 2070 um durchschnittlich 16 Prozent schrumpfen.
Kurzfristig gelangen viele Länder Europas durch den Einbruch in der Geburtenrate – besonders stark zu beobachten im Süden und Osten der Region – und durch die gestiegene Lebenserwartung in ein Zeitfenster „ausgeprägter Bevölkerungsalterung“, in dem der Bevölkerungsteil abhängiger Menschen (Kinder und nicht mehr arbeitsfähige ältere Menschen) schneller wächst als der Teil wirtschaftlich aktiver Menschen (Beschäftigte).
Unterschiedliche nationale Profile führen zu unterschiedlichen Pflegeansätzen
In der Region finden sich unterschiedliche Modelle zur Finanzierung des Sozialschutzes im Alter. Im Bereich der Altersrenten herrscht das Modell des Umlageverfahrens vor. Die Renten werden durch Beiträge der sozialen Sicherheit in Höhe von durchschnittlich rund 21 Prozent des Verdiensts finanziert, meist begleitet durch steuerfinanzierte universelle Leistungen. Dieses System wird beispielsweise in Belgien und Frankreich angewendet. Dänemark, die Niederlande und das Vereinigte Königreich gehören zu den Ländern, die ein System universeller Renten betreiben, in dem der Anspruch von einer bestimmten Dauer des Wohnsitzes abhängig ist und das durch ein oft mit festgelegten Beiträgen finanziertes Kapitaldeckungssystem ergänzt wird. Einige Länder wie Polen oder Schweden und in geringerem Maß auch Deutschland haben einen Übergang hin zu einem allgemeinen (nominellen oder individuellen) Rentensystem mit festgelegten Beiträgen eingeleitet, das oft als teilweise kapitalgedecktes System finanziert wird. Andere Länder Europas, insbesondere im Südosten der Region, verfolgen einen alternativen Ansatz, der ein universelles staatliches System mit einem Vorsorgefonds kombiniert, der zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebensverlauf die Entnahme von Einmalbeträgen erlaubt. Diese Mischung verschiedener Arten der Ruhestandsversorgung hat sich nicht stabilisiert, und die Aufteilung der Kostenlast zwischen den ersten zwei Säulen verlagerte sich in den 2010er-Jahren in zahlreichen Ländern hin zur ersten Säule. Einige Länder führten Umverteilungsmaßnahmen ein, zumindest teilweise aufgrund der Mängel der privaten Rentensparsysteme hinsichtlich Deckung oder Angemessenheit. Ungarn, Polen und die Russische Föderation sind bekannte Beispiele dafür.
Ungeachtet des nationalen Profils können die Maßnahmen, die zur Sicherstellung der allgemeinen Tragfähigkeit der Rentensysteme eingeleitet wurden, nach folgenden vier Ansätzen unterschieden werden (Dumont, 2020): i) Verdichtung oder Verringerung des finanziellen Werts der an Rentner gezahlten Renten; ii) Erhöhung der von erwerbstätigen Menschen zu zahlenden Abzüge (entweder höhere Beiträge für Renten im Umlageverfahren oder geringere Zinsen und Dividenden für individuelle Kapitaldeckungskonten); iii) Vergrößerung des Umfangs der Erwerbsbevölkerung; iv) öffentliche Schuldenaufnahme für die Rentenfinanzierung, die zu einer höheren Belastung der künftigen Arbeitnehmer- und Steuerzahlergenerationen führen wird. Die Länder der Region müssen das finanzielle Gleichgewicht ihrer Rentensysteme sicherstellen. Dazu gehört, dass Abschätzungen der künftigen Zahl der Rentner, der durchschnittlichen Zahl von in Rente verbrachten Jahren und der Zahl der Wohlstand schaffenden Menschen mitberücksichtigt werden müssen. Die Länder der Region haben alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um die Beiträge zu erhöhen, einen Teil der Verantwortung für die Einkommenssicherheit im Alter auf die Einzelnen abzuwälzen, die Erwerbsquote älterer Menschen zu erhöhen und das tatsächliche Renteneintrittsalter anzuheben. Die Strategien zur Förderung eines aktiven Alters haben Früchte getragen: Die Erwerbsquote in der Kohorte von 55 bis 65 Jahren und insbesondere bei den Frauen ist um zehn Prozentpunkte gestiegen, während das tatsächliche Renteneintrittsalter seit 1990 im Durchschnitt um zwei Jahre zugenommen hat (aber bis 2070 um weitere vier Jahre steigen müsste). Dennoch werden diese Änderungen nicht ausreichen, um den Nettorückgang der Erwerbsbevölkerung auszugleichen. Auffallend ist, dass die Russische Föderation diesbezüglich eine Ausnahme bildet (Nadirova, 2018): Das Land verfügt zwar regional über eine der höchsten Erwerbsquoten älterer Menschen, aber es wurden keine Reformen eingeführt, um die Quote noch weiter zu erhöhen (Galina et al., 2018).
Insgesamt geht man davon aus, dass die Nettokosten für die Bevölkerungsalterung bis 2070 um ein bis zwei Prozent des BIP der Region steigen werden, und dies trotz der Verschärfung der Vorschriften für die Berechnung der Altersrenten. Entscheidend ist, dass dieser Anstieg hauptsächlich auf die Zunahme der altersbedingten Gesundheitsausgaben zurückzuführen ist.
Alle Gesundheitsversorgungssysteme stehen vor einem großen Ausgabenbedarf. Kurz gesagt wird der Anstieg der Lebenserwartung ohne eine entsprechende Änderung des übrigen Bevölkerungsprofils zu einer verbreiteten Kostensteigerung im Lebensverlauf führen, und zwar auch für die allgemeinen Gesundheitsausgaben (Breyer, Costa-Font und Felder, 2010). Wenn man die Kosten für Fortschritte in der medizinischen Versorgung und für den Fachkräftebedarf einpreist, dann werden die Ausgaben noch weiter steigen. Schätzungen zufolge machen diese Faktoren etwa 50 Prozent der Zunahme der Gesundheitsausgaben seit 1980 aus (Willemé und Dumont, 2015). Wie bereits erwähnt dürfte die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler künftig abnehmen. Andererseits wächst die Finanzierungsherausforderung, da der Umfang der Gesundheitsausgaben aus der eigenen Tasche im Vergleich zur kollektiven Krankenversicherung abnimmt: In den europäischen Schwellenländern machen individuelle Gesundheitsausgaben noch immer durchschnittlich 30 Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus, verglichen mit 10 Prozent in westeuropäischen und skandinavischen Ländern. Außerdem haben viele Länder in den letzten drei Jahrzehnten eine universelle Deckung eingeführt.
Angesichts der anstehenden Herausforderungen ist die Lösung der Frage der informellen Wirtschaft nach wie vor entscheidend für die Finanzierung der institutionellen Systeme. Dies ist insbesondere der Fall bei Langzeit-Rentenleistungen oder bei Maßnahmen zur Förderung eines unabhängigen Alters: Hier ist eine stabile und regelmäßige Finanzierung erforderlich. Obwohl auch dies von Land zu Land variiert, ist die Größe des informellen Sektors eine zusätzliche Hürde, die überwunden werden muss, wenn die Institutionen in der Lage sein wollen, die Bevölkerung im Alter gut zu versorgen. Bei diesen Herausforderungen gibt es auch eine wichtige geschlechterspezifische Dimension. Vor allem Länder, in denen die Einkommenssicherheit für ältere Menschen hauptsächlich auf universellen öffentlichen Rentensystemen beruht, sorgen sich um einen unwirksamen oder unzureichenden Beitragseinzug. In der Praxis stützen sich viele Reaktionen auf die Bevölkerungsalterung letztlich auf universelle steuerfinanzierte Basisrentensysteme, während die Leistungen von Ruhestandssparsystemen, die oft durch Steuern bezuschusst sind, meist das Privileg einer wohlhabenderen Minderheit bleiben.
Die Polarisierung des Ruhestandseinkommens ist ein Phänomen, das in allen Ländern anzutreffen ist, und zwar auch in solchen, die die Rentenbeiträge angehoben haben, um die finanzielle Tragfähigkeit ihrer Rentensysteme sicherzustellen. In Schweden beispielsweise dürfen durchschnittliche Arbeitnehmer eine Bruttoersatzquote von 55 Prozent des über die Lebensarbeitszeit gerechneten Durchschnittseinkommens erwarten, wohingegen Arbeitnehmer, deren Verdienst doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt, von einer Ersatzquote von fast 140 Prozent ausgehen können. Letztere werden eine Rente beziehen, die fast sechs Mal so hoch liegt wie diejenige von Arbeitnehmern mit Medianeinkommen (OECD, 2021a). Dasselbe Phänomen wird in Ländern beobachtet, in denen private Rentenfonds im nationalen Rentensystem eine größere Rolle spielen, wie im Vereinigten Königreich, in Dänemark und in den Niederlanden.
Die Renten- und Gesundheitssysteme müssen aber auch auf neue Bedürfnisse reagieren, die sich durch die fortgeschrittene Alterung der Bevölkerung ergeben. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, dass zwischen Pflegedienstleistungen, die durch die Krankenversicherung finanziert sind, und sozialer Unterstützung unterschieden werden muss. Die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung (Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) wie Essen, Körperpflege, Ankleiden, Toilettengang, Mobilität und Kontinenz) wird allgemein als wichtigster Indikator zur Bestimmung einerseits des Pflegebedarfs und andererseits der Unterstützungsdienstleistungen verwendet. So ist es durchaus möglich, dass eine Person zur Bewältigung dieser sechs ATL Unterstützungsdienstleistungen benötigt, aber keine eigentliche Pflege. Die Voraussetzungen (und die Basiskosten) für die Gewährung einer derartigen Unterstützung sind geringer als diejenigen für Pflegedienstleistungen, denn für Letztere braucht es qualifiziertes medizinisches Personal.
Verschiedene Länder der Region haben ein Langzeitpflegeversicherungssystem eingeführt, um den Menschen bei der Bezahlung regelmäßiger Pflegedienstleistungen zu helfen, die bei ihnen zu Hause oder in einer Einrichtung erbracht werden sollen. Dabei ist vor allem der gleiche Zugang eine Herausforderung. So führte Deutschland 1995 eine Langzeitpflege für ältere Menschen durch einen Finanzierungsmechanismus mit einer Sozialversicherung ein, um gleiche Rechte zu gewährleisten. In Belgien besteht die Langzeitpflege aus einem breiten Spektrum von Dienstleistungen, die hauptsächlich auf regionaler und kommunaler Ebene organisiert sind und je nach Gegend sehr unterschiedlich ausfallen. Frankreich indes verkündete ein sogenanntes „fünftes Risiko der sozialen Sicherheit“, gegen das lokale Behörden eine einheitliche Antwort anbieten, die durch einen nationalen Ausgleichsfonds unterstützt wird, damit alle Menschen im Land die gleiche Langzeitpflege erhalten.
Um Lücken im zeitlichen Pflegeverlauf zu verringern und eine nicht notwendige Hospitalisierung zu vermeiden, sollten die Unterstützungs- und Pflegedienstleistungen koordiniert werden, so dass ältere Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben können. In den vergangenen Jahren verfolgten verschiedene Länder einen umfassenderen Ansatz zum Angebot von Langzeitpflegeund Unterstützungsdienstleistungen für ältere Menschen und zur Förderung des Modells nach dem Motto „Vor Ort älter werden“. 2009 wurde in den Niederlanden die Einrichtung De Hogeweyk geschaffen, eine wegweisende Pflegeinstitution für ältere Menschen mit Demenz, die mit dem Konzept „Vor Ort älter werden“ und einer Langzeitpflege hoher Qualität wirbt. Die Einrichtung wird „Dorf“ anstatt „Krankenhaus“ genannt, und die dort versorgten Menschen heißen „Bewohner“ und nicht „Patienten“. Da derartige innovative Strategien ständig angepasst werden müssen, sind zusätzliche Finanzmittel erforderlich. Barleistungen, die oft weniger kostenaufwendig sind, zum Beispiel finanzielle Anreize für nichtprofessionelle Pflegepersonen (oder Pflegepersonen ohne beruflichen Status), werden in einigen Ländern angeboten, wie etwa im Vereinigten Königreich, in Irland, in Italien und in Dänemark. Bei diesen Leistungen wird anerkannt, dass „informelle Pflegepersonen“ für den reibungslosen Betrieb der Langzeitpflegesysteme in Europa eine wichtige Rolle spielen. In alternden Gesellschaften macht es jedoch Sinn, professionelle Arbeitskräfte zu fördern, damit Pflegende Urlaub nehmen und Weiterbildungen absolvieren können in einem Sektor, der sich oft stark auf eingewanderte Arbeitskräfte stützt (Bornia et al., 2011).
Um die Menschen im Alter optimal versorgen zu können, werden auch neue Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) eingesetzt. In Deutschland wird in Untersuchungen in der ambulanten, informellen und sektorübergreifenden Pflege das Potenzial digitaler Technologien analysiert, mit denen sich die Unabhängigkeit von Pflegebedürftigen erhöhen und der Druck von den Schultern der formellen und informellen Pflegepersonen nehmen lässt. In Österreich wurde eine Strategie eingeführt, um die Internetaffinität älterer Menschen zu verbessern (Firgo und Famira-Mühlberger, 2020).
Welche Form die institutionelle Organisation der Renten- und Gesundheitssysteme auch annimmt, die Organisation der beruflichen Aus- und Weiterbildung und die Formalisierung der Unterstützungstätigkeiten für ältere Menschen sind wesentliche Elemente einer angemessenen Antwort auf die neuen Herausforderungen, die sich aufgrund der Bevölkerungsalterung für die Finanzierungsstruktur stellen. Dies gilt insbesondere für die Finanzierung von Strategien, mit denen älteren Menschen geholfen wird, unabhängig zu bleiben, denn die Umsetzung dieser Strategien wird in den kommenden Jahren eine der großen Haushaltsherausforderungen sein (Safonov und Shkrebelo, 2021). Neben der Förderung einer formellen Beschäftigung und einer beruflichen Qualifikation von Pflegefachkräften müssen auch informelle Pflegepersonen institutionell unterstützt werden (Muir, 2017), seien dies Angehörige oder Personen aus der Gemeinschaft, deren Engagement sich für das Wohl älterer Menschen und für ihre Unabhängigkeit als wichtig erwiesen hat (Varlamova et al., 2020). Die Einführung professioneller Pflegestandards ist ein entscheidender Faktor, mit dem sich Misshandlungen älterer Menschen vermeiden lassen.
Erste institutionelle Massnahmen
Vor dem Hintergrund dreier wichtiger strategischer Ziele wurden verschiedene operative Lösungen umgesetzt, um die Herausforderungen durch die Bevölkerungsalterung zu bewältigen.
Erstens muss sichergestellt werden, dass Dienstleistungen für eine alternde Bevölkerung eingeführt werden. Um die Dienstleistungen für Beschäftigte kurz vor ihrem Ruhestand sowie für Rentner und ältere Menschen zu verbessern, insbesondere für pflegebedürftige Menschen zu Hause oder in einem Heim, wurden verschiedene Initiativen gestartet. Das Schwedische Rentenversicherungsamt (Pensionsmyndigheten) richtete ein Ruhestandsplanungsinstrument (Uttagsplaneraren) ein, in dem die Bürger sehen können, welche Auswirkungen die Wahl ihres Rentenalters auf ihre Rentenbezüge haben wird. In verschiedenen Ländern wurden Strategien umgesetzt, um die Bedürfnisse älterer Menschen zu erfüllen und ihnen zu helfen, unabhängig zu bleiben. In Aserbaidschan beispielsweise verfolgt das Amt für nachhaltige und operative soziale Sicherheit (Agency for Sustainable and Operational Social Security – DOST) eine Strategie, um isolierte ältere Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Zur verbesserten Unterstützung von Familien mit Schwierigkeiten richtete die polnische Sozialversicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń Społecznych – ZUS) im Rahmen ihres Anti- Krisen-Schutzschilds außergewöhnliche Dienstleistungen für ältere Menschen ein.
Zweitens ist es wichtig, die Resilienz der Dienstleistungen für ältere Menschen auch in Zeiten politischer, gesellschaftlicher oder gesundheitlicher Krisen zu erhalten. Dafür wurden verschiedene Lösungen entwickelt. Zur Aufrechterhaltung von Dienstleistungen, die stark durch die COVID‑19-Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden, führte man spezifische Protokolle ein, die sich stark auf Informations- und Kommunikationstechnologien stützen. So entwickelte die finnische Sozialversicherungsanstalt (Kansaneläkelaitos – KELA) zwei Chatbots (Kela-Kelpo und FPA-Folke), die den Versicherten insbesondere im Kontext der Pandemie Hilfe anbieten. Ein weiteres Beispiel ist die Möglichkeit, virtuelle Besuche und Gespräche mit Beratern über eine Videoschalte zu organisieren, wie dies durch die polnische ZUS und andere Institutionen der Region getan wurde. Über zahlreiche elektronische Dienstleistungen wird den Versicherten unabhängig von Zeit und Standort eine personalisierte Unterstützung angeboten. Digitale Instrumente wurden auch verbreitet eingesetzt, um einen kontaktlosen Zugang zum gesamten Dienstleistungsangebot zu ermöglichen. So verfolgt die Deutsche Rentenversicherung Bund eine umfassende Digitalstrategie. Dazu mussten Unterstützungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für den Umgang mit den neuen Instrumenten eingerichtet werden, insbesondere für ältere Menschen, die digitalen Technologien oft zurückhaltender gegenüberstehen. Das Staatliche Sozialversicherungsamt Lettlands (State Social Insurance Agency) setzte über ein zentrales Angebot lokaler Behörden elektronische Assistenten ein, um die Nutzer mit den Online‑Dienstleistungen vertraut zu machen.
Drittens ist es notwendig, die Formalisierung des Arbeitsmarkts zu intensivieren und die Sozialversicherungsdeckung stärker auszuweiten. Verbesserungen im Zugang zu formeller Beschäftigung führen zu einer Anhebung des Beitrags- und Steueraufkommens und stärken so die öffentliche Finanzierung der Dienstleistungen und die Unterstützung für ältere Menschen (IAA, 2021b). Dazu werden in der Region verschiedene Ansätze implementiert. Ein verbessertes öffentliches Wissen über soziale Sicherheit hilft, dass die Bürgerinnen und Bürger der Formalisierung der Arbeitsverhältnisse mehr Verständnis entgegenbringen. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Kommunikationsstrategie des Einheitlichen kumulierenden Pensionsfonds (Unified Accumulative Pension Fund – JSC) von Kasachstan. Zudem wird auch verbreitet eine Vereinfachung der Verfahren für die Beitragszahlung sehr kleiner Unternehmen beobachtet. In der Türkei finden sich zwei Beispiele dafür: die „einfache Beantragung einer Arbeitgeberschaft“ und die vereinfachte Beitragsentrichtung für Renten der zweiten Säule. Vereinfachte Verfahren können auch durch die Einführung professioneller Standards für nichtmedizinische Dienstleistungen im Zusammenspiel mit Strategien zur Förderung eines unabhängigen Alltags älterer Menschen erfolgen. Das französische Zentralamt der Träger der sozialen Sicherheit (Agence centrale des organismes de sécurité sociale – ACOSS) richtete beispielsweise Dienstleistungen zur Vereinfachung der Formalisierung solcher Tätigkeiten ein, begleitet durch einen steuerlichen Anreiz für die angestellte Betreuungsperson.
Gute Praxis
Frankreich: Unterstützung für die Formalisierung personenbezogener Dienstleistungen
Das französische Zentralamt der Träger der sozialen Sicherheit, das die Vereinigung für den Einzug von Beiträgen für die soziale Sicherheit und für Familienleistungen (Union de recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d‘allocations familiales – URSSAF) leitet, führte eine Strategie zur Formalisierung und Professionalisierung personenbezogener Dienstleistungen ein. Ziel war es, häusliche Pflegedienstleistungen zur professionalisieren und zu formalisieren, insbesondere für Personen, deren Arbeit älteren Menschen hilft, weiter unabhängig leben zu können.
Mit dem „Elektronischen Gutschein für die Beschäftigung universeller Dienstleister“ (CESU+) konnte der Prozess zur Formalisierung der häuslichen Unterstützungsdienstleister und zur steuerlichen Entlastung der unterstützten Menschen vereinfacht werden. In der Praxis umfasst dies ein vereinfachtes Online-Anmeldesystem, wobei der Staat über eine steuerliche Entlastung die Hälfte der Kosten für die Beschäftigung von Pflegepersonen übernimmt. Ziel war es, die Professionalisierung der häuslichen Pflegedienstleistungen voranzutreiben und die in diesem Bereich Beschäftigten mit einem formellen Arbeitsstatus und mit einem entsprechenden Weiterbildungsanspruch auszustatten. Selbstständige Pflegepersonen können Beiträge entrichten, um Zugang zu einem vollen Sozialschutz zu erlangen, so dass Mikrounternehmen durch eine Anmeldung als Einzelunternehmen formalisiert werden können.
Quelle: IVSS (2022).
Aserbaidschan: Eine Strategie zur sozialen Unterstützung von Menschen über 65 Jahren
In Aserbaidschan organisiert das Amt für nachhaltige und operative soziale Sicherheit soziale Dienstleistungen für ältere Menschen zu Hause, die ohne Verwandte oder gesetzliche Vertreter leben. Sozialarbeiter helfen älteren Menschen bei Hausarbeit, Putzen, Nahrungsmittel- und Medikamenteneinkauf, Zahlungen und anderen Aufgaben.
Außerdem hat das Amt Initiativen entwickelt, um die soziale Sicherheit für ältere Menschen auszubauen, beispielsweise zur Verbesserung ihrer Lebensqualität und zur Förderung ihrer aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Amt wurde durch das Ministerium für Arbeit und Sozialschutz der Bevölkerung der Republik Aserbaidschan und durch den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) zum Exekutivorgan der dritten Komponente eines gemeinsamen Projekts für aktives Alter ernannt. Im Rahmen dieses Projektes arbeitet das Amt in verschiedenen Bereichen wie Erfahrungsaustausch älterer Menschen mit der jüngeren Generation, Vermittlung von Wissen und Kompetenzen über Informationstechnologien für ältere Menschen und Organisation von Freizeitaktivitäten.
Außerdem richtete das Amt das Programm „Silber DOST“ ein, das Menschen im Ruhestand als Freiwillige für eine Mindestdauer von zwei Monaten beschäftigt. Dank des Programms können Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund als temporäre Sozialarbeiter den Bürgerinnen und Bürgern in den DOST-Dienstleistungszentren Unterstützungsdienste anbieten.
Quelle: IVSS (2022).
Literaturverzeichnis
IAA. 2021b. Non-standard forms of employment in selected countries in Central and Eastern Europe – A critical glance into regulation and implementation. Budapest, ILO Decent Work Technical Support Team and Country Office for Central and Eastern Europe.
IAA. 2021f. World Social Protection Report 2020–22: Social protection at the crossroads – in pursuit of a better future. Genf, Internationales Arbeitsamt.
Bornia, L. et al. 2011. „Système migratoire et métiers du care: comment les évolutions démographiques produisent les nouvelles migrations“, in Gérontologie et Société, Bd. 34, Nr. 139.
Breyer, F.; Costa-Font, J.; Felder, S. 2010. „Ageing, health and health care“, in Oxford Review of Economic Policy, Bd. 26, Nr. 4.
Dumont, G.-F. 2020. „Les retraites en Europe: quelle perspective?“, in Les analyses de Population et avenir, Dezember.
Europäische Kommission. 2020. Report on the impact of demographic change. Brüssel.
Europäische Kommission. 2021a. Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on improving working conditions in platform work (2021/0414 (COD)). Brüssel.
Europäische Kommission. 2021d. 2021 Long-term care report: Trends, challenges and opportunities in an ageing society. Luxemburg, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union.
Europäische Kommission. 2021e. The 2021 ageing report : Economic & budgetary projections for the EU Member States (2019-2070) (Institutional paper, Nr.148). Luxemburg, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union.
Eurostat. 2021b. Population structure and ageing. Luxemburg.
Firgo, M.; Famira-Mühlberger, U. 2020. „Öfffenliche Ausgaben für Pflege nach Abschaffung des Regresses in der stationarën Langzeitpflege“, in Monatsberiche, Bd. 93, Nr. 6.
Galina, A. et al. 2018. „Active Ageing Index: A Russian study“, in A. Zaidi et al., Building evidences for active ageing policies. Singapore, Palgrave Macmillan.
Gietel-Basten, S. et al. 2017. Ageing in Russia: Regional inequalities and pension reform (IEMS working paper, Nr. 2017‑49). Hongkong, University of Science and Technology – Institute for Emerging Market Studies.
IVSS. 2022. Datenbank für gute Praxis der IVSS. Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
IVSS; SSA. 2018a. Social security programs throughout the world: Europe, 2018. Washington, DC, Verwaltung für soziale Sicherheit.
IVSS; SSA. 2018b. Social security programs throughout the world: Asia and the Pacific, 2018. Washington, DC, Verwaltung für soziale Sicherheit.
Muir, T. 2017. Measuring social protection for long term care (OECD Working paper, Nr. 93). Paris, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Nadirova, G. 2018. „Social aspect of population aging in Eurasia“, in Weekly e-bulletin, Nr. 164.
OECD. 2020a. Long-term care resources and utilisation. Paris, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
OECD. 2020b. Focus on spending on long-term care. Paris, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
OECD. 2021a. Pensions at a glance: OECD and the G20 indicators. Paris, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Safonov, A.; Shkrebelo, A. 2021. Long-term care system in Russia: International benchmarks and current relevant data for the Russian Federation. Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
UN. 2020. The Sustainable Development Goals report. New York, NY, Vereinte Nationen.
UNDESA. 2019. World population prospects 2019. New York, NY, Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen.
Varlamova, M. et al. 2020. Ageing in Europe, from North to South. Brüssel, European Liberal Forum.
Willemé, P.; Dumont, M. 2015. „Machines that go ‘ping’: Medical technologies and health expenditures in OECD countries“, in Health Economics, Bd. 24, Nr. 8.