Afrika ist zwar die Region mit der geringsten formalen Deckung der sozialen Sicherheit, allerdings stützt sich die sozioökonomische Sicherheit dort auch auf die afrikanischen Systeme und Mechanismen der Unterstützung durch Verwandte und die Gemeinschaft, die eine wichtige Rolle für den Schutz der Menschen vor den Unwägbarkeiten des Lebens spielen.
Eine wissensbasierte Bewertung der Deckung der sozialen Sicherheit in Afrika zeigt eine Dichotomie zwischen formellen und informellen wirtschaftlichen Aktivitäten mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Deckung der sozialen Sicherheit. Schätzungen zufolge erhalten nur 17,4 Prozent der afrikanischen Bevölkerung mindestens eine Form von Sozialschutzleistungen (IAO, 2021). Die gemeldeten Zahlen beziehen sich zumeist auf Deckungsquoten, die auf formeller Beschäftigung, das heißt auf der Sozialversicherung sowie auf staatlich finanzierten Sozialhilfemaßnahmen, basieren. Andererseits bietet auch die Absicherung durch die Familie, beispielsweise durch Kinder, die für die gesundheitlichen und finanziellen Belange ihrer Eltern im Alter sorgen, oder die Absicherung durch auf Gegenseitigkeit beruhender Gemeinschaftssysteme verschiedenen Bevölkerungsgruppen sozioökonomische Sicherheit.
Darüber hinaus haben informelle und agrarwirtschaftliche Strukturen, die die Beschäftigungslandschaft in Afrika dominieren, Bevölkerungsgruppen dazu veranlasst, auf profane Sozialschutzvereinbarungen wie rotierende Spar- und Kreditvereinigungen (Rotating Savings and Credit Associations – ROSCAs) und bargeldlose Leistungsvereinbarungen auf Gegenseitigkeit zurückzugreifen, die in den Gemeinden der Region eine zentrale Rolle spielen. Die Deckungsraten sind niedrig, weil zu wenig in Sozialschutzleistungen und -dienste investiert wird. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Zahlen niedriger sind als die tatsächliche Zahl der Personen, die einen wirksamen Zugang zu irgendeiner Form des Schutzes vor sozioökonomischer Gefährdung haben.
Institutionen wie die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), das Internationale Politikzentrum für integratives Wachstum (International Policy Centre for Inclusive Growth – IPC-IG), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund – UNICEF), das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme – UNDP) und das Welternährungsprogramm (World Food Programme – WFP) definieren Sozialschutz als eine Reihe von national festgelegten Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen, sozioökonomische Gefährdung, Armut und Entbehrungen zu bekämpfen (Socialprotection.org, 2022). Sie konzentrieren sich auf die Arbeitsregulierung und die Arbeitsmarktpolitik, die staatliche Unterstützung durch Sozialhilfe und die Prävention durch Sozialversicherung und Regelungen zur Arbeitgeberverantwortung, um die anhaltende Herausforderung zu bewältigen, den Zugang zu Grundeinkommen und grundlegender Gesundheitsversorgung für alle zu sichern.
Devereux und Sabates-Wheeler (2004) liefern eine umfassendere Definition, die besagt, dass „Sozialschutz alle öffentlichen und privaten Initiativen umfasst, die Einkommens- oder Konsumtransfers für arme Menschen vorsehen, benachteiligte Menschen vor Existenzrisiken schützen und den sozialen Status und die Rechte von ausgegrenzten Menschen verbessern“. Dies spiegelt die zunehmende Anerkennung von Maßnahmen wie Programmen zur Bereitstellung von Mahlzeiten in Schulen, Food-for-Work-Programmen (Nahrungsmittel im Tausch gegen Arbeit), Gebührenbefreiung, Subventionen sowie von beschäftigungsintensiven öffentlichen Bauprogrammen als eine Form des Sozialschutzes wider.
Auf der Suche nach Lösungen für die anhaltende Herausforderung, allen Menschen einen Sozialversicherungsschutz zu bieten, wird es für den politischen Diskurs über die Ausweitung und den Ausbau der Deckung der sozialen Sicherheit wichtig sein, die Stärken und Schwächen des afrikanischen Systems der Unterstützung durch Verwandte und die Gemeinschaft zu berücksichtigen, um praktikable und akzeptable Lösungen zu finden, die auf die Gegebenheiten in Afrika zugeschnitten sind.
Das afrikanische System des sozialen Schutzes durch Verwandte und die Gemeinschaft
Sozialschutz ist für die Afrikaner nichts Neues. Aus sozioökonomischer Sicht besteht das Ziel des Sozialschutzes darin, das Recht aller Menschen auf ein menschenwürdiges und besseres Leben durch die Bekämpfung von sozioökonomischer Gefährdung, Benachteiligung, Armut und Not zu gewährleisten. Bereits lange vor der formellen Anerkennung des Sozialschutzes als universelles und grundlegendes Menschenrecht (AEMR, 1948) haben die Afrikaner durch eine Reihe von sozialen Verpflichtungen, die das afrikanische System der Unterstützung durch Verwandte und die Gemeinschaft im Geiste von Ubuntu bilden, das Ziel eines besseren Lebens für alle verfolgt .
Im Wesentlichen bezeichnet „Ubuntu“ das afrikanische Glaubens- und Wertesystem, das auf soziokultureller Solidarität beruht und sicherstellen soll, dass niemand eine tragische Situation alleine erleiden muss (Mugumbate und Nyanguru, 2013). Es deckt sich mit den modernen Sozialschutzregelungen wie der Sozialversicherung, der Sozialhilfe und der Arbeitgeberverantwortung. Der Begriff geht jedoch über die enge Fokussierung auf rechtliche Verpflichtungen hinaus und umfasst auch de facto Grundsätze der Menschlichkeit und des Wohlwollens, die darauf abzielen, das Wohlergehen und die Verbesserung der Lebensumstände einzelner Menschen und der Menschheit insgesamt sicherzustellen.
Die Schwierigkeit bei der Gestaltung wirksamer Sozialschutzmaßnahmen und -programme in Afrika liegt in der anhaltenden Ambiguität zwischen Staat und Regierung. In internationalen Menschenrechtsinstrumenten, wie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN, 1966), der das Grundrecht auf soziale Sicherheit als einklagbar einstuft, wird im Allgemeinen auf den Staat verwiesen und nicht auf die Regierung. Dies führt dazu, dass national definierte Programme in den Ländern des gesamten Spektrums allgemein als Kernstück von Sozialschutzmaßnahmen anerkannt werden.
Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass der Begriff des Staates in Afrika zwar noch recht neu ist, dass aber postkoloniale Staaten, indigene Regierungen und Governance-Mechanismen die Grundlage für den Gesellschaftsvertrag in Afrika bildeten, wobei die ernannten Anführer der Gemeinschaft oder das Oberhaupt der Sippe die Rolle der Regierung spielten und die Pflicht hatten, die Werte zu schützen und die gegenseitigen sozioökonomischen Rechte und Pflichten der Mitglieder der Gemeinschaft durchzusetzen, um das Recht auf ein menschenwürdiges und besseres Leben für alle zu verwirklichen.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948) wird das Recht auf soziale Sicherheit als ein grundlegendes Menschenrecht anerkannt (Artikel 22), und weiterführend wird erklärt, was das Recht auf sozialen Schutz ausmacht, d.h. das Recht auf angemessene Gesundheitsfürsorge und menschenwürdige Lebensbedingungen sowie das Recht auf Schutz durch die soziale Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, hohem Alter und den damit verbundenen Unwägbarkeiten des Lebens und der Existenzgrundlage (Artikel 25) (UN, 1948). Diese Unwägbarkeiten sind im Übereinkommen über (die Mindestnormen der) Sozialen Sicherheit der IAO von 1952 (Nr. 102) aufgeführt und bilden die neun Zweige der sozialen Sicherheit. (IAO, 1952).
Im weiteren Verlauf wurde die vorrangige Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherheit für alle Menschen gegenüber den kontraproduktiven Debatten über die institutionellen und finanziellen Modalitäten der Verwirklichung dieses Rechts in den Vordergrund gerückt. Auf diese Weise wurde die Annahme der IAO-Empfehlung betreffend den innerstaatlichen sozialen Basisschutz, 2012 (Nr. 202) herbeigeführt, die die Debatte über die soziale Grundsicherung zu einer universellen sozialen Sicherheit weiterentwickelt, einschließlich eines sozialen Basisschutzes, der Mindestgarantien für die soziale Sicherheit mit effektivem Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und zu grundlegender Einkommenssicherung im Laufe des Lebens umfasst. (IAO, 2012)
Ebenso wie das Übereinkommen (Nr. 102) hebt auch die Empfehlung (Nr. 202) die Bedeutung einer auf nationaler Ebene festgelegten Politik, die durch Rechtsvorschriften und eine angemessene Finanzierungsstrategie untermauert wird, als entscheidende Elemente der nationalen Sozialschutzsysteme hervor. Selbstverständlich tragen beide Instrumente der Pflicht des Staates Rechnung, im Rahmen der Wahrung des grundlegenden Menschenrechts auf soziale Sicherheit für Schutz und Sicherheit zu sorgen, wobei der Schwerpunkt auf der Regulierung und Finanzierung liegt. Die Umsetzung beider Instrumente erfordert jedoch auch eine klare Strategie und eine Verknüpfung mit nicht staatlich regulierten Eingriffen, die in Afrika die soziale Solidarität prägen und zur sozioökonomischen Sicherheit beitragen.
Beispielsweise unterhalten indigene afrikanische Gemeinschaften, die Subsistenz- und Kleinlandwirtschaft betreiben, Austausch- und Solidaritätsprogramme für ihre Arbeitskräfte, die mit Kranken- oder Mutterschaftsgeldprogrammen vergleichbar sind. Im Wesentlichen sind die Programme zum wechselseitigen Austausch von Arbeitskräften in landwirtschaftlichen Gemeinschaften so konzipiert, dass jedes kranke Mitglied von den Arbeitsleistungen anderer Mitglieder der Gruppe profitiert, die im Krankheitsfall für das kranke Mitglied Anbau- oder Erntearbeiten durchführen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die landwirtschaftlichen Tätigkeiten einer Person nicht aufgrund von Krankheit oder anderen Einschränkungen unterbrochen werden.
Darüber hinaus sind Betreuungsleistungen – Kinderbetreuung, Altenpflege und/oder medizinische Versorgung – eher eine Aufgabe der Verwandten und der Gemeinschaft als eine bezahlte Dienstleistung. Dies fördert die größere Solidarität unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft, in der jeder Elternteil, der sich Nahrungsmittel, Versorgung oder eine Unterkunft leisten kann, im Rahmen einer natürlichen Rotation unter den Eltern für alle Kinder in seinem Umfeld sorgt. Andernfalls übernehmen die unmittelbaren Familienmitglieder wie Kinder oder Geschwister automatisch die Verantwortung für die Bedürfnisse der Familie – sowohl in finanzieller als auch in materieller Hinsicht –, wenn Angehörige mit den Unwägbarkeiten des Lebens konfrontiert werden.
Für den Einzelnen können diese Maßnahmen de facto eine ähnliche Rolle spielen wie formelle Maßnahmen der sozialen Sicherheit. Allerdings hat die sich stetig weiterentwickelnde Art der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen dazu geführt, dass das afrikanische System des Sozialschutzes durch die Unterstützung von Verwandten oder der Gemeinschaft unter Druck geraten ist, so dass der Übergang zu formalisierten und gesetzlich verankerten Regelungen unvermeidlich ist. Entscheidend ist, dass dieser Übergang die bestehenden Solidaritätsmechanismen berücksichtigt, sie sinnvoll ergänzt und sich nicht negativ auf ihre weitere Entwicklung auswirkt.
Die praktische Arbeit der Mitgliedsinstitutionen der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) in Afrika zeigt, dass politische Entscheidungsträger und Fachleute auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Bestandsaufnahme durchführen und Fortschritte beim Übergang von einfachen indigenen Regelungen zu formellen und staatlich geregelten Sozialschutzsystemen machen, und zwar durch eine Mischung von Strategien und Maßnahmen wie Bildung und Sensibilisierung, die Übertragung von Risiken innerhalb der Verwandtschaft und Gemeinschaft auf den Staat sowie die Anerkennung und Regulierung von Gemeinschaftsinitiativen.
Bildung und Sensibilisierung
Bildung und Sensibilisierung spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines gewünschten Verhaltens. Einzelpersonen und die Gesellschaft entwickeln Tugenden und Werte auf der Grundlage der Informationen und Verhaltensweisen, denen sie im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sind, insbesondere in den frühen Lebensjahren. Die Mitgliedsinstitutionen der IVSS in Afrika sind sich dieser Tatsache bewusst und bemühen sich zunehmend darum, die Menschen auf die Existenz und die Vorzüge des Schutzes durch die soziale Sicherheit aufmerksam zu machen, um die Akzeptanz zu fördern und die Deckung auf bisher nicht gedeckte Bevölkerungsgruppen auszuweiten.
So hat die Rentenkasse der Seychellen (Seychelles Pension Fund – SPF) beispielsweise Comic-Strips zu Bildungszwecken in den nationalen Medien entwickelt, um Informations- und Wissenslücken im Bereich der Gesetzgebung der sozialen Sicherheit zu schließen, Fake News entgegenzuwirken und die Inanspruchnahme der Rechte der sozialen Sicherheit sowie die Erfüllung der Pflichten der sozialen Sicherheit zu fördern, wobei der Schwerpunkt auf Mitglieder, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelegt wurde. Dank der Initiative konnte die Rentenkasse einen Rückgang der Zahl der über Social-Media-Plattformen eingegangenen Beschwerden verzeichnen, während die Zahl der Freundschaftsanfragen auf dem Facebook-Konto der Rentenkasse deutlich anstieg (Rentenkasse der Seychellen, 2021a). Auf diese Weise entsteht eine Wissensgemeinschaft im Bereich der Rechte und Pflichten der sozialen Sicherheit zwischen den Nutzern und der Verwaltung der Rentenkasse.
Analog dazu hat die Marokkanische Rentenkasse (Caisse marocaine des retraites ‒ CMR) das Forumtheater als Kommunikationskanal eingeführt, um die Kultur der sozialen Sicherheit in der Bevölkerung durch die Vermittlung von Verhaltensänderungen weiterzuentwickeln und um das Bewusstsein für die Governance und die Verwaltung der sozialen Sicherheit, die nationale Reform der Rentensysteme und die Notwendigkeit ihrer Umsetzung sowie für den Ruhestand und die damit verbundenen Rechte und Pflichten zu schärfen. Die Initiative bewirkte eine positive Wahrnehmung des Markenimages und des Profils der Institutionen sowie eine Verbreitung des Wissens zum Thema soziale Sicherheit bei einem breiten Publikum mit weitreichenden Auswirkungen auf die Akzeptanz und Inanspruchnahme von Leistungen der sozialen Sicherheit unter den Versicherten und ihren Familien (Marokkanische Rentenkasse, 2021).
Übertragung von Risiken innerhalb der Verwandtschaft und Gemeinschaft auf den Staat
Grundsätzlich handelt es sich bei der sozialen Sicherheit um eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, Risiken zu bündeln und sie nach genau festgelegten Kriterien auf die Beteiligten umzulegen. Zwar erfolgt eine selektive Auswahl von Personen, die sich in einer identischen oder ähnlichen Situation befinden, wie z.B. Arbeitnehmer des formellen Sektors, die durch Pflichtversicherungsprogramme gedeckt sind, informelle Arbeitnehmer und Selbstständige, die durch freiwillige Versicherungsprogramme gedeckt sind, oder Personen in freien Berufen oder Vereinigungen, die durch Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit geschützt sind, doch das Grundprinzip der Risikobündelung und -teilung bleibt unberührt und ist identisch mit dem Soliditätsprinzip der afrikanischen Ureinwohner (Ubuntu).
Dennoch ist die Ubuntu-Tradition in ihrer ursprünglichen Form, bei der Verwandte und Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen, sowohl profan als auch weniger geeignet, um auf die sich rasch verändernden Risiken zu reagieren, denen die Menschen in einer zunehmend globalisierten Welt ausgesetzt sind. Mit dem Beginn der Globalisierung im 20. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel von der Subsistenzlandwirtschaft hin zur weit verbreiteten Produktion von Cash Crops durch die Agrarindustrie. Dies führte zur allmählichen Aushöhlung der gemeinschaftsbasierten Vereinbarungen über den Austausch von Arbeitskräften und zur Zunahme der Lohnarbeit. Dies zeigt, dass der Übergang zu formellen, durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanzierten Vereinbarungen der sozialen Sicherheit erforderlich ist.
Darüber hinaus führte die Industrialisierung zur Mechanisierung der Landwirtschaft und zu einer Verdrängung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in die Industrie. Die Zahl der im Industriesektor geschaffenen Arbeitsplätze war jedoch im Allgemeinen geringer als die Zahl der Arbeitsplätze, die durch die Mechanisierung der Landwirtschaft verloren gingen. Zusammen mit der Urbanisierung führte dies bei der erwerbstätigen Bevölkerung zu Landflucht und wirtschaftlicher Abwanderung aus ländlichen Gemeinden mit geringen sozioökonomischen Möglichkeiten in die Städte und ins Ausland. In Ermangelung angemessener sozioökonomischer Möglichkeiten in den Städten oder im Ausland landen die Arbeitssuchenden in informellen und mitunter nicht regulierten Wirtschaftsaktivitäten mit hoher Gefährdung.
Darüber hinaus hat die HIV/AIDS-Pandemie in einigen Gemeinden Afrikas die zweite Generation dezimiert, was zu einem Anstieg der Abhängigkeitsquoten in fast allen Ländern der Region geführt hat. Um dem Zusammenwirken der zunehmenden sozioökonomischen Gefährdung aufgrund von Landflucht und Migration sowie der HIV/AIDS-Pandemie zu begegnen, setzen Regierungen und Entwicklungspartner vor allem in den Ländern der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika („Southern African Development Community“ – SADC) auf Sozialhilfemaßnahmen mit einer Zunahme von (bedingten) Geldtransfers, einkommensabhängigen Leistungen und Sozialrenten.
Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung, bei denen die Sozialausgaben im Mittelpunkt stehen, lösen jedoch grundsätzliche Bedenken im Hinblick auf die Stabilität der staatlich finanzierten Sozialhilfemaßnahmen aus. Dies hat die Verwaltungen der sozialen Sicherheit dazu veranlasst, auf bestehende Solidaritätsmuster zu setzen, um die Ubuntu-Tradition der afrikanischen Ureinwohner in formelle und staatlich geregelte Vereinbarungen zu überführen.
Auf den Seychellen wurde dies mithilfe der Neukunden-Gutscheine für freiwillige Beiträge der Rentenkasse der Seychellen erreicht. Das Programm ist so konzipiert, dass es sich die natürliche Eigenschaft der afrikanischen Ureinwohner zunutze macht, sich im Geiste von Ubuntu um ihre Angehörigen und Liebsten zu kümmern. Über dieses Programm haben wohlhabende Familienmitglieder im Rahmen der freiwilligen Versicherung ein Versicherungsprodukt für ihre Liebsten abgeschlossen, anstatt im Falle von Alter, Invalidität oder Tod selbst für deren Absicherung zu sorgen oder die Verantwortung zu übernehmen. Dabei geht die Verantwortung für die Versorgung der finanziell Schwächeren bei Fälligkeit des Versicherungsprodukts von den Angehörigen und der Gemeinschaft auf den Staat über (Rentenkasse der Seychellen, 2020b).
Die Neuheit des Programms besteht darin, dass die schenkende Person ihren Arbeitgeber ermächtigen kann, die Beiträge für den geliebten Menschen direkt von seinem Verdienst einzubehalten und an die Rentenkasse abzuführen, wodurch die bei freiwilligen Versicherungsprogrammen übliche Problematik des Zahlungsverzugs gelöst wird.
Anerkennung und Regulierung
Das in den letzten Jahrzehnten verzeichnete Wirtschaftswachstum erfüllt noch immer nicht die Erwartungen an mehr und bessere Arbeitsplätze in den formellen Wirtschaftssektoren (IAO, 2018). Als Reaktion auf diese Realität beginnen Regierungen und Entscheidungsträger mit der Ausarbeitung von Programmen und der Umsetzung von Maßnahmen, um den Übergang von der informellen zur formellen Beschäftigung zu beschleunigen. Allerdings ist der Nutzen gering, wenn in den Volkswirtschaften und Gesellschaften informelle Beschäftigungsverhältnisse vorherrschen.
Die Regierungen sind sich der Herausforderungen bewusst und sehen es als ihre Pflicht an, den Schutz durch die soziale Sicherheit für alle zu gewährleisten. Sie entwickeln Strategien, um die soziale Sicherheit auf die informelle Wirtschaft auszuweiten, und konzentrieren sich dabei auf die wirtschaftlichen Akteure, die zu den so genannten schwer zu deckenden Gruppen gehören. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählen die Öffnung der Pflichtversicherung für informell Beschäftigte und Selbstständige, damit diese sich auf freiwilliger Basis versichern können, sowie die Anerkennung und Regulierung von Hilfsvereinen auf Gegenseitigkeit.
In Tunesien hat die Landeskasse für soziale Sicherheit (Caisse nationale de sécurité sociale – CNSS) das Programm zur Ausweitung der Deckung der sozialen Sicherheit unter dem Namen „Protège-moi“ („Schütze mich“) eingeführt. Das Programm wurde auf der Grundlage der Leitlinien der IVSS über administrative Lösungen für die Deckungsausweitung entwickelt, um den Schutz durch die soziale Sicherheit auf Frauen in ländlichen Gebieten und andere einkommensschwache Selbstständige und Zeitarbeitskräfte in der Landwirtschaft auszuweiten. Es entstand aus der Gesetzesänderung, die es ermöglichte, ursprünglich ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen einzubeziehen, und stützte sich auf eine Partnerschaft zwischen der Landeskasse und den Ministerien für Soziales, Frauen, Landwirtschaft und Kommunikationstechnologie, einem Telekommunikationsanbieter und einem privaten Tech-Start-up, um die Anmeldung zu erleichtern und die Erfüllung der Beitragspflicht zu verbessern (Landeskasse für soziale Sicherheit, 2020).
In einer ähnlichen Entwicklung hat die Rentenkasse der Gemeinden (Local Authorities Pension Trust – LAPT) in Kenia die gängige Praxis des „Sparens für den Regentag“ („Saving for the rainy day“) genutzt, um durch die Initiative „Save As You Spend“ („Spare beim Ausgeben“) die Zahl der Anmeldungen zu erhöhen und die Einhaltung der Vorschriften im Rahmen des freiwilligen Versicherungssystems zu verbessern. Die Initiative basiert auf der Prämisse, dass laufende Ausgaben mit Mikro-Ersparnissen für den künftigen Konsum einhergehen sollten, um die Arbeitnehmer im informellen Sektor dazu zu bewegen, sich für das System der sozialen Sicherheit anzumelden und ihre Beitragspflicht durch die Anhäufung von Mikro-Abschlägen in ihren mobilen Geldbörsen bei jeder getätigten Zahlung zu erfüllen (Rentenkasse der Gemeinden, 2020).
Schlussbemerkungen
Ein wirksamer Zugang zu einem angemessenen Sozialschutz spielt eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von sozioökonomischer Gefährdung, Entbehrung und Bedürftigkeit. Die Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherheit für alle Menschen stellt jedoch eine anhaltende Herausforderung für die Regierungen und die Verwaltungen der sozialen Sicherheit in Afrika dar, da informelle Beschäftigungsverhältnisse weit verbreitet sind und es an Möglichkeiten mangelt, die beitragsfinanzierte Deckung der sozialen Sicherheit auszuweiten, während die Nachfrage nach Leistungen und Diensten steigt.
Afrika ist die Region mit der weltweit geringsten Deckung der sozialen Sicherheit, was auf unzureichende Investitionen in Sozialhilfeprogramme zurückzuführen ist, aber auch auf ein hohes Maß an informeller Beschäftigung und sozioökonomischer Gefährdung, wodurch die Ausweitung der beitragsfinanzierten sozialen Sicherheit beeinträchtigt wird.
Vor diesem Hintergrund nutzen die Mitgliedsinstitutionen der IVSS in der Region die bestehenden Solidaritätsmechanismen, die auf der Ubuntu-Kultur der afrikanischen Ureinwohner beruhen. Dies führt zu einer neuen Dynamik bei der Ausweitung der Deckung der sozialen Sicherheit durch Bildung und Aufklärungsarbeit, durch die Übertragung von Risiken innerhalb der Verwandtschaft und Gemeinschaft auf den Staat sowie durch die Anerkennung und Regulierung von Gemeinschaftsinitiativen. Auf diese Weise werden Interventionen durch Verwandte und die Gemeinschaft als ergänzende Säule der nationalen Sozialschutzsysteme zunehmend anerkannt.
Die vorhandenen Kenntnisse und Praktiken der Mitgliedsinstitutionen der IVSS in Afrika belegen Folgendes:
- Das Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnisse und Informationen zur Anzahl der Personen, die von informellen und nicht staatlich geregelten Formen des Sozialschutzes im Rahmen des Sozialschutzsystems afrikanischer Ureinwohner durch die Unterstützung von Verwandten und der Gemeinschaft erfasst werden, erschwert die Messung der sozioökonomischen Unsicherheit.
- Die weitere Ausweitung der Deckung der sozialen Sicherheit in Afrika ist durch eine Verfeinerung des politischen Diskurses und der praktischen Vorgehensweisen möglich. Ziel ist es, sich die Ubuntu-Tradition der afrikanischen Ureinwohner bei der Formalisierung von Vereinbarungen im Bereich der sozialen Sicherheit zunutze zu machen, um die Deckung auszuweiten und zu verbessern.
Die afrikanischen Staaten sind sich zunehmend ihrer Verpflichtung bewusst und reagieren auf die Herausforderungen, die mit der Ausweitung der Deckung der sozialen Sicherheit verbunden sind. Die Vertiefung des Wissens über die Ubuntu-Tradition der afrikanischen Ureinwohner und ihren Beitrag zu den nationalen Sozialschutzstrategien bietet enormes Potenzial, den politischen Diskurs über die Ausweitung und den Ausbau der Deckung in Ländern des gesamten Spektrums zu prägen.
Referenzen
Devereux; D.; Sabates-Wheeler, R. 2004. Transformative social protection (IDS Working paper, No. 232). Brighton, Institute of Development Studies.
IAO. 1952. C102 - Social Security (Minimum Standards) Convention, 1952 (No. 102). Genf, Internationales Arbeitsamt.
IAO. 2012. R202 - Social Protection Floors Recommendation, 2012 (No. 202). Genf, Internationales Arbeitsamt.
IAO. 2018. Decent work and the Sustainable Development Goals: A guidebook on SDG labour market indicators. Genf, Internationales Arbeitsamt.
IAO. 2021. World Social Protection Report: Social protection at the crossroads – in pursuit of a better future. Genf, Internationales Arbeitsamt.
Landeskasse für soziale Sicherheit. 2020. „Protège-moi“ (Schütze mich): Ein auf Frauen in ländlichen Gebieten ausgerichtetes Programm zur Deckung durch die soziale Sicherheit (Good practices in social security). (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
Marokkanische Rentenkasse. 2020. Das Forumtheater: Kommunikationskanal für die Entwicklung der Sozialversicherungskultur / Eine Kommunikationsform, um das Verhalten in Bezug auf die Rechte und Pflichten der Nutzer zu ändern (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
Mugumbate, J.; Nyanguru, A. 2013. ”Exploring African philosophy: The value of ubuntu in socilo recial work”, in African Journal of Social Work, Vol. 3, Nr. 1.
Rentenkasse der Gemeinden. 2020. Nutzung strategischer Partnerschaften für die Ausweitung der Rentendeckung und die Verbesserung der Compliance im informellen Sektor („Spare beim Ausgeben”) (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
Rentenkasse der Seychellen. 2020a. Comic-Strip zu Bildungszwecken in den nationalen Medien (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
Rentenkasse der Seychellen. 2020b. Neukunden-Gutscheine für freiwillige Beiträge (Gute Praxis in der sozialen Sicherheit). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.
UNO. 1948. Universal Declaration of Human Rights. New York, NY, Vereinte Nationen.
UNO. 1966. International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights. Genf, Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte.